in Fontanes Spätwerk aufgenommen haben mögen. So hätte Fontane schon durch die
Napoleons Großer Armee hatten zu Beginn des Feldzuges knapp 100 000 Polen den Njemen überschritten, praktisch also alles, was das Land damals an Soldaten aufbieten konnte, Napoleons Niederlage, die durch Yorcks Konvention von Tauroggen besiegelt wurde, bedeutete Polens Ende.
Mit Polens Geschichte wird in Fontanes Roman, gelinde gesagt, recht oberflächlich umgegangen. Man erfährt darüber — von losen Einfügungen abgesehen — hauptsächlich etwas bei der einführenden Charakteristik des Geheimrates von Ladalinski. 4 In einer leidlichen Folge wird nur die Geschichte der polnischen Insurrektion von 1794 geschildert. Auch dies geschieht skizzenhaft. An Preußen wird im Zusammenhang mit Polens Teilungen nur zweimal beiläufig gedacht: bei Erwähnung „großer Flächen polnischen Landes", die durch den preußischen Staat „einverleibt wurden" 5 und bei Bninskis Auftritt im dritten Teil des Romans, der Preußen vorwirft, es habe Polen „um dreißig Silberlinge" verschachert (was dem Leser nahelegen würde, daß Polen im preußischen Staate einen zuverlässigen Beschützer zu haben hoffte, der sich — schlimm genug — des Vertrauens unwürdig erwiesen habe). Das stellt natürlich — es stehe dahin, ob berechtigt — nicht geringe Ansprüche an diesen Leser, ermöglicht aber dem Verfasser, sich einer deutlicheren Stellungnahme zu entziehen. Doch wie andeutungsweise Fontane auch mit Polens Geschichte hantiert — er bleibt nicht vor groben Beschädigungen der jeder Nation eigenen historischen Heiligtümer bewahrt. Dazu kommt es etwa, wenn Alexander von Ladalinski die Autorschaft der Konstitution vom 3. Mai zugeschrieben wird, oder wenn andernorts von Bninski an die Spitze der heldenhaften Reiterei von Somosierra gestellt wird — Zuschreibungen, die schon mit dem normalen Handbuchwissen kollidieren. Auf Polens dramatische Lage im Jahre 1812 wird mit keinem Wort eingegangen.
Man wird die geschichtlichen Verzerrungen nicht als Unkenntnis und das Verschweigen bestimmter Tatsachen nicht nur aus kompositionellen Gründen erklären können. Für einen auch nur leidlichen Kenner der polnischen Geschichte liegt auf der Hand, daß Fontane der Versuchung nicht widerstand, die Hauptschuld für Polens Verschwinden von der Landkarte den Russen in die Schuhe zu schieben.
Wäre das kein Anlaß zum Sarkasmus? Wären mildere Töne anzuschlagen, wenn man die Entstehungszeit des Romans bedenkt, eine Zeit, wo die offizielle Politik des Deutschen Reichs zunehmend von Feindschaft gegen das Polentum durchdrungen wurde und der berüchtigte Kulturkampf seinen Höhepunkt erreichte? Selbst Fürst Bismarck äußerte in seinen „Gedanken und Erinnerungen": „Der Beginn des Kulturkampfs war für mich überwiegend bestimmt durch seine polnische Seite." 7 Wie überspitzt auch — typisch für Bismarck — diese Äußerung klingt, so steht doch außer Zweifel, daß die siebziger und achtziger Jahre keinen geeigneten Boden für Polenfreundliches Verhalten boten. War es mithin nicht Ehre genug, sich der vorherrschenden antipolnischen Hetze nicht angeschlossen zu haben?
In Anbetracht dieser Zeitbedingtheit entwickelt Walter Müller-Seidel eine eigene Konzeption, wie zeitgenössische Rezipienten die auf Polen deutenden Bemerkungen ie n Fontanes Spätwerk aufgenommen haben mögen. So hätte Fontane schon durch di bloße Einfügung polnischer Motive die Absicht verfolgt, „seine Leser unauffällig gegen die herrschende und gegen die offizielle Meinung einzunehmen". Polen betreffende „wohlwollende und von Sympathien bestimmte Erwähnungen" 8 wären also - so die logische Folge — nichts anderes als ein durch die objektive Lage bedingtes, v on anderswoher wohlbekanntes, verstohlenes Augenzwinkern, dem ein gescheiter Leser mit einem verständigen Schmunzeln und Kopfnicken zu begegnen hätte.
Wie verlockend sie auch klingt — die von Müller-Seidel anempfohlene Verfahrensweise ist höchst riskant. Die Feder bleibt schließlich für einen Schriftsteller das
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