Heft 
(1990) 50
Seite
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einzige Werkzeug, mit dem er seine Überzeugungen der Mit- und Nachwelt übermit­teln kann. Was aber Theodor Fontane in seinem Spätwerk dem Leser hinterließ, läßt auf nicht mehr als auf eine unverbindliche und obendrein mit starken Vorbe­halten einhergehende Sympathie für das Polentum schließen. Allein der Roman Vor dem Sturm" bietet eine Gelegenheit, die Grenzen dieser Zuneigung abzu­stecken.

Fontanes Erstlingsroman läßt eine positive Stellungnahme zu der polnischen Frage vermissen. Er enthält einen einzigen Passus, der unter Umständen als zaghafter Versuch eines Schuld- und Reuebekenntnisses zu deuten wäre, als Ausdruck des Gefühls einer Mitschuld am tragischen Schicksal Polens. Es sind die Predigtworte des Hohen-Vietzer Gemeindehirten Seidentopf:Unredlicher Gewinn habe zum Über­fluß unser Gebiet vergrößert, bis die Hälfte unseres Landes aus fremdem Volk be­standen habe, derart, daß wir kaum noch gewußt hätten, ob wir Deutsche seien oder nicht." 9 Auch hier ist jedoch im Grunde lediglich von den Auswirkungen der Einverleibung Polens auf Preußen die Rede. Wie anders formuliert ist der entspre­chende Passus im Predigttext Friedrich Schleiermachers vom März 1813, auf den sich Fontane bei der Gestaltung von Seidentopfs Predigt bekanntlich stützte:Unred­licher Gewinn vergrößerte unser Gebiet auf eine mehr scheinbare als gedeihliche Weise, denn wir gewannen nur wenig wahre Brüder, die gern denselben Gesetzen folgten und auf dasselbe Ziel arbeiteten .. ." 10

Vergeblich sucht man inVor dem Sturm" nach den Spuren eines nationalen polni­schen Aufbegehrens gegen das fremde Joch. Begreiflicherweise läßt es sich nicht durch die von ihrer angestammten Heimat losgelöste Familie Ladalinski darstellen. Das geeignete Mittel dazu scheint die Gestalt des polnischen Grafen Bninski, der als Offizier an Napoleons Seite gestanden hatte und bei Ladalinskis ein häufiger Gast sich nicht scheut, auch öffentlich seine nationale Gesinnung zum Ausdruck zu bringen. Sein krönendes, flammendes Auftreten im dritten Buch des Romans be­schränkt sich jedoch nur auf eine haßerfüllte, verbissene Geißelung des Preußentums und endet in Ratlosigkeit und Resignation. 11 Es enthält auch sonst keine konstruk­tiven Elemente.

Polnischer Freiheitsanspruch steht im Roman in keinem Verhältnis zum reichlich ausgebauten preußischen Ehrenkodex und Freiheitsethos. Entscheidend für die For­schung wäre die Suche nach dem Grund einer solchen Zurückhaltung des Dichters gegenüber der polnischen Frage. Grob gesagt: für den alten Theodor Fontane exi­stiert einepolnische Frage" nicht mehr.

Schon der Junker Friedrich August Ludwig von der Marwitz, dessen Memoirenbuch Fontane noch an der Neige seines Lebens unter den Büchern, die den meisten Ein­fluß auf ihn ausgeübt hatten,ganz obenan" stellte, 12 lieferte eine suggestive Er­klärung für Polens schmachvolles Ende am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. Er sah Polen als einenin Egoismus versunkenen Nachbar[n], der seinen Sturz seit 200 Jahren selbst vorbereitet und herbeigeführt hat", die Teilungen seien eine notwendige Folge polnischer Schlechtigkeit und individueller Habsucht" gewesen. Zu der endgültigen Vertilgung Polens heißt es im weiteren:Wir sind gezwungen gewesen, da sein [d. h. Polens] Ende nicht aufzuhalten war, uns gegen die Nach­barn zu sichern, die ihn (!) unterjochten. Nur deswegen mußten wir unsere Gränze (!) in das schon nicht mehr vorhandene ehemalige Polen vorrücken!" 13 Eine ähnliche Auffassung, mit einer gelehrten Phraseologie geschmückt, wobei stark auf den Gang des erbarmungslosen Rades der Geschichte hingewiesen wurde, vertrat Heinrich von Sybel, 14 dessen Haltung man als typisch für die deutsche Historiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansehen kann.

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