Wir haben allen Grund anzunehmen, daß der Autor von „Vor dem Sturm" solchen Meinungen nicht abgeneigt war. Die überlieferten Notizbücher, die seine Vorarbeiten zum Roman enthalten, weisen dazu eine bedenkliche Affinität auf. „Es gibt keinen größeren Gegensatz, als den polnischen und preußischen Charakter, als das preußische und polnische Wesen. Der Pole muß sich, als Träger seiner nationalen Eigenschaften notwendig feindlich gegen uns verhalten" — lautet eine der früheren Aufzeichnungen Fontanes. Immerhin aber „gibt es Polen, die deutsch empfinden d. h., solche die den Ordnungssinn haben und ihn über die Landschaft stellen. Diese Polen lernen Preußen lieb gewinnen und stellen sich (.. .) (weil sie die Fehler ihres Volkes erkennen) auf die Seite Preußens. Solche Einzelpolen gab es immer. Dazu gehörte Lada- linski .. ," 15 Ähnliches, wenngleich dezenter, artikuliert Fontane auch im Roman.
Wie weit Fontanes historisch-geographische Vorstellung von Polen ging, zeigt sich in der Konzeption der Gestalt Bninskis (ursprünglich Skrbenski). In seinem Notizbuch stattete ihn der Dichter mit Gütern in Posen, Oberschlesien und — Polen aus. 16 Mit seiner Zurückhaltung meint es also Theodor Fontane in „Vor dem Sturm" ernst. Wohl oder übel kommt man zu dem Schluß, daß das Polentum hier nur als ein Mittel, die eingefügten Fetzen polnischer Geschichte nur als ein Instrument zur Erlangung einer preußischen Identität dienen. 17
Anmerkungen
Abkürzung: Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. In: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Berlin und Weimar 1984 3 , Bd. 1,2. = VdS Bd. 1,2.
1 Vgl. Fontane an Ludwig Pietsch, 24. April 1880, in: Theodor Fontane. Briefe. Bd. 3. 1879—1889. Hrsg, von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Frankfurt/M., Berlin 1987. S. 79 (Ullstein Buch, 4551)
2 Vgl. VdS Bd. 2, S. 38
3 Die Charaktere der in „Vor dem Sturm" agierenden Gestalten wurden von mehreren Forschern einer Analyse unterzogen. Erwähnt sei hier nur die umfangreiche Arbeit von Hugo Aust: Theodor Fonane: „Verklärung". Eine Untersuchung zum Ideengehalt seiner Werke. Bonn 1974, S. 51 ff
4 Vgl. VdS Bd. 2, S. 32 ff
5 Vgl. VdS Bd. 2, S. 37
6 Vgl. VdS Bd. 2, S. 192
7 Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. (Volksausgabe) Stuttgart und Berlin 1905, Bd. 2, S. 154
8 Walter Müller-Seidel, Fontane und Polen. Eine Betrachtung zur deutschen Literatur im Zeitalter Bismarcks., in: Jörg Thunecke (Hrsg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In honour of her 70th birthday. Nottingham 1979, S. 444
9 VdS Bd. 2, S. 319
10 Friedrich Schleiermacher, Die große Veränderung, deren unser Volk sich erfreut, von Seiten unserer Würdigkeit vor Gott betrachtet. In: F. Sch.: Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden. Leipzig 1889, S. 73 (Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur. Mit einleitenden Monographien. Hrsg, von Gustav Leonhardi. Bd. VII]
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