Heft 
(1990) 50
Seite
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wagten, weil wir gut schwimmen konnten, und schwammen denn auch wirklich, trotz Brandung, auf ein Schiff zu, von dem wir wußten, daß der Kapitän mit unserer Sache sei. Meinen beiden Kameraden aber ging die Kraft aus; ich für mein Teil konnte noch gerad ein Tau fassen, das mir von Deck aus zugeworfen wurde." 34 Auch hier wird die Flucht mit knapper Mühe und nur dank der Hilfe eines Kapitäns be­wältigt, wobei Fontane das aufregende Ereignis dadurch noch poetisch überhöht, daß er Camilles Begleiter tödlich scheitern läßt. Daß Camille später im amerikanischen Mittelwesten hängenbleibt, entspricht insofern Rocheforts Schicksal, als sein Flucht­weg ihn quer durch die Vereinigten Staaten führte. Außerdem hat in Camilles Zu­fluchtsuche bei den Mennoniten Rocheforts Aufenthalt beim Heiligtum der Mormonen seinen Widerschein.

Auch kann über die Kommune- und Fluchtvergangenheit hinaus selbst im Charak­terlichen Rochefort ein Vorbild für Camille gewesen sein, denn Rochefort hat sich bei allem politischen Engagement seine Selbständigkeit, ja Querköpfigkeit bewahrt. Entsprechend ist das Auftreten des Revolutionärs in .Quitt" manchmal wirr. Man denke nur an die Bemerkung, die Camille die politische Geradlinigkeit abspricht: die technischen Fortschritte in der Welt seien Dinge, so heißt es, .die seiner Seele mindestens so hoch standen (vielleicht noch höher) als der Sieg der Commune". 35

Freilich, mit Darboys Hinrichtung hatte Rochefort nichts zu schaffen. Camille als Bischofsmörder und Deportierter ist eine Erfindung, aber nicht unbedingt eine Fontanesche. Es gab, wie erwähnt, das Gerücht, Rochefort sei der Mörder des Erz­bischofs, und vielleicht ist es als Falschmeldung durch die Zeitungen gegangen und Fontane vor die Augen gekommen. Dann läge es auf der Hand, daß nicht der tat­sächliche Mörder des Erzbischofs, sondern Henri Rochefort und sein Schicksal die entscheidende Inspirationsquelle bei der Erfindung der Figur Camille L'Hermite ge­wesen ist.

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Natürlich wollen wir uns nicht darin verlieren, alle Parallelen zwischen L'Hermite und Rochefort aufzuspüren. Denn nur spekulieren kann man darüber, wie genau Fontane über Rocheforts Leben informiert war und was im einzelnen ihn an diesem Mann fasziniert haben könnte. Möglicherweise hat ihn schon die Tatsache angezogen, daß für ihn, den ehemaligen Journalisten, Rochefort ein Berufskollege war. Oder hatte er sogar erfahren, daß Rochefort vor seiner Deportation, während der zwei­jährigen Wartezeit, acht Wochen, vom 22. Juni bis zum 20. August 1872, in der Zita­delle von Oleron untergebracht war, also genau an jenem Ort, wo der kriegsgefan- gene Fontane festgesessen hatte? Sah Fontane demnach in Rochefort auch den Leidensgenossen? 30

Lassen wir dies in der Schwebe, zumal es für die Konstruktion des Romanes kaum von Belang ist. Halten wir vielmehr fest: Camille L'Hermite hat auch in seiner Rolle als Verbannter und Flüchtling sein Vorbild in der Wirklichkeit, und dieses Vorbild war Henri Rochefort, der Journalist, Politiker und politisch Verfolgte. Eingangs er­wähnten wir jene Deutung des .Quitt"-Romans, wonach der Fall Camille als das hochpolitische Gegenstück zu dem privat motivierten Exilantenschicksal Lehnert angelegt ist. Fontanes Orientierung an Rochefort, an dieser zeitgeschichtlichen Be­rühmtheit, ist für diese Deutung gewiß ein beachtenswerter Beleg.

Anmerkungen:

1 Theodor Fontane: Der Stechlin. (Sämtliche Romane. Erzählungen. Gedichte.

Nachgelassenes. Bd. 5.) München 1980, S. 7.

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