noch die Rolle des Wegbereiters in den Tod übernimmt, jedoch dem lebenden Sohn keine Gefahr bedeutet. Darum wurden als Motto für diese Studie acht Zeilen aus „Die Kraniche des Ibykus" ausgewählt, weil aus ihnen im Hinblick auf Fontanes Kindheitserinnerungen hervorgeht, daß er sich von seinen Qualen („Erinnyen") dadurch befreit hat, daß er zu seiner „Kinderseele" zurückfand.
Natürlich finden wir, weiter rückwärtsblätternd, in der Kindheitsdarstellung weitere Stellen mit dem gleichen Versteckspiel der Bezüge und zwar so, daß es im Rahmen einer Diskussion über das Verstehen von Gedichten gespielt wird. Der Sohn klagt, er könne Schillers „Kampf mit dem Drachen" zwar hersagen, aber nicht verstehen, worauf der Vater antwortet,
„Gewiß, es gibt Dichter, die man nicht verstehen kann. Aber Schiller! Gang nach dem Eisenhammer, Bürgschaft, Kraniche des Ibykus, da kann man mit. ,Und in Poseidons Fichtenhain Tritt er mit frommem Schauder ein' — das kann jeder verstehn und war immer meine Lieblingsstelle. Natürlich muß man wissen, wer Poseidon ist."
„Ja, das geht, und Poseidon kenn ich." 1:!
Hier spielt der Dichter mit dem Unterschied zwischen Wissen und Kennen, so daß hinter der oberflächlich positiven Antwort des Kleinen auch die Andeutung hervorlugt, daß dem Vater selbst und ihm unbekannt die Identität des Poseidon übertragen wird. Die Wiederaufnahme der gleichen Symbolik bei der Darstellung der letzten Begegnung belegt aber eindeutig die Ein- und Absicht Fontanes, seine alten Komplexe zu befinieren und dadurch zu überwinden. Erst die Einsicht in das Spiel, das Fontane mit Schillers Gedicht spielt, ermöglicht es dem Leser, die wahre Tiefe dieser Prosa auszuloten, die von der Ballade ausgeht und zu ihr zurück will, wie Thomas Mann über Fontane schrieb. Gedichte entstehen als Selbstverständigung, dienen beim Leser unter anderen Voraussetzungen dem gleichen Zweck und fordern ihn zu eigener kreativer Leistung heraus.
Solche Tiefe in der Kunst entsteht nicht „über Nacht,-" darum drängt sich die Frage auf, ob sich dieser Vererbungskomplex gegenüber dem Vater nicht schon in frühen Jahren Ausdruck verschafft hat. Ohne diese Frage mit lexikalischer Gründlichkeit beantworten zu wollen, fällt ein weiteres autobiographisches Erlebnis auf, das vom gleichen „frommen Schauder" lebt. Genau drei Jahre nach dem Tod des Vaters geriet der Sohn in Lebensgefahr, von französischen Einheiten als Spion standrechtlich erschossen zu werden. Nach der Darstellung in „Kriegsgefangen" von jener entscheidenden Nacht, soll der vor seiner Kerkertür abgestellte Wachtposten seinem drei Jahre zuvor gestorbenen Vater aufs Haar geglichen haben. Wie die Psychoanalytiker sagen, belegt diese eigenartige Gespenstergeschichte, daß Fontane an einem ambivalenten Komplex zum Vater litt, und daß er Gedanke an den Vater durch den Tod symbolisch besetzt war.
Tiefen- und literaturpsychologisch ist es von entscheidender Bedeutung, daß sich diese symbolische Besetzung, dieser Vererbungskomplex ,bis in die Jugend zurückverfolgen läßt. Bereits im Oktober 1840 erschien in der „Eisenbahn" ein Gedicht Fontanes mit der Überschrift „Das Gespensterschiff" und dem Untertitel „nach Capt. Marryat". Weil der Marryatsche Roman „The Phantom Ship" 1839 erschien, können wir mit Bestimmtheit sagen, daß „Das Gespensterschiff" das Werk eines Zwanzigjährigen ist. Die Anlehnung an die fremde Vorlage verringert aber keineswegs das persönliche Moment in Fontanes Ballade: eher umgekehrt, denn es erlaubt ihm die Fiktion, es gehe darin eben nicht um den Dichter. Um derartige literaturpsychologische Zusammenhänge zu erklären, hat der Züricher Germanist Peter von Matt den
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