Heft 
(1990) 50
Seite
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liehe Kindheitsentwicklung und zweitens der Umstand, daß sich die Komplexbildung viel zu spät vollzog, nämlich erst dann, als er das Versagen des geliebten Vaters erkannte. Daß es schon die erste Entfremdung vom Vater gegeben hat, ersehen wir aus der Erwähnung des RuppinerAdlerapothekers", der hochnäsig an Rudolph und Clara vorübergeht. Wollte sich das Gefühl des Versagens lieber als ein Opfersein gegenüber Hartherzigkeit ausgeben? Oder gab die Ungerechtigkeit, die sich darin ausdrückt, mit den Anstoß zur späteren Ballade? Die Ballade entstand zwar später als die Erzählung, behandelt aber das gleiche Anliegen in einem früheren Stadium; gerade dieser chronologische Rückschritt bedeutet aber einen seelischen Fortschritt, denn er ist charakteristisch für die natürliche Wirkungsweise selbstanalytischen Denkens. Fontanes unmittelbar erlebte Anliegen waren die Überwindung der Minna- Fixierung und der Eifersucht gegenüber Männern wie von Kloeden, die er in jeder anderen Hinsicht sympathisch fand. Was Fontane also durchmachte, könnten wir als eine Art psychisch-kreative Wiedergeburt bezeichnen, in der ödipale Gefühle, die er zu Hause nie ausgelebt hatte, auf Zeitgenossen übertragen wurden. Er überwand sie als erste in der langen Reihe seiner Verspätungen mit dem ihm eigenen Genie, d.h., mit der aus der Kindheit bekannten Lösung, nur daß an die Stelle des Kumpelver­hältnisses zum Vater die Männerfreundschaft zu Literaturbeflissenen trat. Auf die potentiellen Rivalen im erwachsenen Leben überträgt er das gleiche Gefühlsverhält­nis, das ihn früher mit dem Vater verbunden hatte; auch sie, die Kollegen und Freunde, würde er symbolisch zu übertreffen und gleichzeitig zu retten versuchen, und immer wird seine Frau daheim, der er zwar sehr viel, aber selten voll Zärtlich­keit schreiben wird, über seinenunmöglichen" Ehrgeiz den Kopf schütteln.

Man ist versucht zu sagen, es war kein Zufall, daß sie genauso wie seine Mutter Emilie hieß. Andererseits beweisen die unzähligen Briefe an sie, daß er mit Frau und Familie treusorgender umging als Vater/Vanderdecken, und daß er bei seinem großen Wagnis, freier Schriftsteller und Romandichter zu werden, die von ihr gehegten Zweifel und die Kritik stets sehr ernst nahm und immer bemüht war, sie konsequent auszuräumen. Literaturpsychologisch ist Fontanes Streben nach voll­endeter Kunst, also auch mit den Inhalten derselben aufs engste verknüpft. Somit hat die dichterische Konsequenz des Vererbungskomplexes und dessen Überwindung auch mit dem zu tun, was die Psychologie die Vater instanz nennt, also mit dem Ver­hältnis des Dichters zur Gesellschaft und Autorität, wie es sich in seinen Werken ausdrückt. Auch diese überpersönliche Konsequenz hat Fontane in weiteren Kindheits­erinnerungen des Versteckspielens versinnbildlicht.

Noch einmal blättern wir ein paar Seiten zurück bis zur Beschreibung desnor­malen", d. h. entschlüsselbaren weil nicht auf Persönliches beschränkten Ver­steckspielens. Auch dort waren esMomente des höchsten Triumphs", wenn ihn die anderen Jungen nicht finden konnten.

Aber gerade diese Momente höchsten Triumphs waren es doch auch, die zuletzt wieder eine Gefahr heraufbeschworen. Wenn ich da durch Mauer- und Lattenwerk verborgen eine Stunde lang und oft noch länger gehockt hatte, kamen, wie sich denken läßt, kleine menschliche Schwachheiten über mich, denen ich sozusagen auf ordnungsgemäße Weise nicht nachgehen konnte, weil ich mich dadurch meinen unten auf mich wartenden Feinden überliefert haben würde. So denn zwischen zwei Bedrängnisse gestellt, kroch ich zuletzt aus meinem Halbversteck auf einen möglichst im Schatten liegenden Balken hinaus und nahm hier die Stellung ein, wie die berühmte kleine Brunnen­figur in Brüssel, mich zugleich derselben Beschäftigung unterziehend. [...] Das war dann jedesmal ein großer Sieg, aber eine schmerzliche Niederlage

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