heftete sich nur allzu oft an meine Sohlen. Traf es sich nämlich so, daß mein Vater am anderen Tage sein Haus revidierte, vor allem die Böden, gegen die er immer ein besonderes Mißtrauen unterhielt, so trat er alsbald sinnend an die Stelle, zu deren Häupten ich am Abend vorher gestanden, und hielt hier eine seiner herkömmlichen, zunächst gegen das verdammte Dach, das ihn noch aufzehren werde, gerichteten Ansprachen, bis ihm mit einem Male der Gedanke kam, „sollte vielleicht wieder .. .?" Und nun begann das Prozessualische. Wurde meine Schuld festgestellt, so traf mich eine Strafe, die die wegen Ball und Fensterscheibe mindestens dublierte. 23
Die mit Schiller-Anspielungen gespickte, unangemessene Verwendung von Gerichtsdeutsch bei der Beschreibung der Untat und deren Ahndung stellt schon einen halben Zusammenhang zum Spielmotto vom „Jüngsten Tag" her. Mit dem kleinen Versteckspieler wird so geschickt gespielt, daß sogar die biologische Männlichkeit in einem Zusammenhang bloßgestellt wird, der den Vater als Schuld zuweisende und strafende Instanz definiert. Nicht auf begriffliche, sondern auf stilistische Weise wird die humorvolle Aussage verallgemeinert. Der Bummelton bemächtigt sich des Gerichtsstils und zweckentfremdet ihn, erzeugt dadurch einen humorvollen Kontrast und schützt sich damit vor etwaiger Beanstandung — literarisches Versteckspielen. Ganz andere Strafen hätte jedoch die gesellschaftlich institutionalisierte Vaterinstanz für den Dichter parat, sollte er sich Untaten der übertragenen Art schuldig machen, solchen, die ganz andere Fundamente untergraben könnten.
Wir spielen also weiter mit und hinterfragen das Stichwort „Brüssel", suchen symbolische Zusammenhänge und werden im 12. Kapitel, „Was wir in der Welt erlebten" fündig, wo die belgische Hauptstadt in einem politisch bedeutsamen Zusammenhang genannt wird. Dort erzählt Fontane, wie er im Revolutionsjahr 1830 und mit zehn Jahren für weltpolitische Ereignisse geweckt wurde.
Von großem Eindruck auf mich war [...] die Nachricht, daß in Brüssel bei Aufführung der Stummen von Portici die Revolution ausgebrochen sei, und zwar gerade bei der Stelle: „Dem Meertyrannen gilt die wilde Jagd"; ich fand dies unbeschreiblich schön, vielleicht in der dunklen, für eine Poetennatur immerhin schmeichelhaften Vorstellung, daß hier ein Lied eine politische Tat geweckt oder gezeitigt habe. 24
Der antike Meertyrann hieß bekanntlich Poseidon. Nicht nur die bewährte Erfahrung mit Fontanes Symbolik, sondern auch das rhetorische Umfeld, die in folgenden Zeilen abermals vorgeschützte Unfähigkeit, das eigene Gefühlsleben zu begreifen, das Liebäugeln mit dem zukünftigen Dichterberuf, lassen keinen Zwiefel an dem — hätte er es direkt gesagt — gewagten Bekenntnis, daß sein dichterisches Versteckspielen der Unkenntlich- bzw. Unnachweisbarmachung seiner politisch kritischen, möglicherweise revolutionären Gedankengänge dient.
Freilich ist die Wahl des Pinkelns als Symbol für den rebellischen Impuls keine Originalschöpfung, aber hier geht es nicht um Originalität, sondern um literarische Kommunikation. Wie eine Schweizer Germanistin es so klar erkennt, der Dichter versteckt, um zu offenbaren 25 . Aus dem gleichen symbolischen Umfeld läßt Fontane auch politische Reaktionäre reden, wenn sie fordern, der Staat solle „der Hydra der Revolution das giftige Haupt zertreten." Der Rückbezug dieser Symbolik auf das Vater-Sohn Verhältnis zeigt, wie tief der Sinn in Fontanes Humor eigentlich geht und wie er bis in seine schwersten Krisen, seine schönsten Erfolge und sein poetisches Engagement hinein verfolgt werden kann.
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