Der Groll gegen den Vater hatte eine tiefe, aber auch äußerst fruchtbare Wunde in Fontanes jugendliche Seele geschnitten, ihm eine Bürde auferlegt, unter der er immer stärker wurde, jedoch nicht stark genug, um dieselbe Bürde des Grolls abzuwerfen, bis ihn die selbstgestellte Aufgabe - jener Roman, der „Effi Briest" wurde - zwang, sich endlich mit der eigenen Entwicklung, mit dem alten Groll auseinanderzusetzen. Das differenzierte Vaterbild in „Meine Kinderjahre" wurde zur endgültigen Überwindung der zwanghaften Vorstellung, er müsse enden wie sein Vater. Die ruhige Betrachtung des Vaters im Tode entband den Dichter von den Hemmungen, die dem höchsten Ausdruck seines Talents bisher im Wege gestanden hatten. Den Gespensterkapitän seines Jugendgedichts konnte er als Schillers Poseidon harmlos ins Meer der Erinnerung zurücksinken lassen und so „erlösen", auch sich selbst von der Zwangsvorstellung, nur der eigene Tod könne für ihn erlösend wirken.
Zu diesem differenzierten Vaterbild gehört auch das zugleich interpretative und willkürlich manipulierende Spiel mit Schillers „Kraniche des Ibykus". Zunächst funktionierte das Gedicht als Identifikationsmittel für kindliche Ängste. Erst viel später begann die eigene Kreativität mit derselben Identifikationssymbolik zu spielen, durch Andeutungen und Zutaten, Wegnahmen und Abänderungen, das ursprüngliche Gehalt der Gedichtstellen derart umzupolen und umzudeuten, daß die so geschaffenen Kollagen den in der Zwischenzeit geschaffenen Unterschieden und Realitäten gerecht werden. So bedeuteten lyrische Gedichte für Fontane sein Leben lang ein Mittel zur Selbsterkenntnis und zugleich zur Selbstbefreiung.
Insofern diese Ergebnisse zutreffen, haben wir erst die Oberfläche gekratzt, denn sie haben für die Interpretation von Fontanes Werk weitreichende ramifca tions -Konsequenzen ist dagegen ein etwas schwerfälliger Begriff. Es geht hier nicht nur um eine Einsicht, sondern um Einsicht in Zusammenhänge, die der literaturpsychologischen Gesetzmäßigkeit unterliegen. Allerdings können sie hier nur skizziert werden. Auf die Theorie braucht man auch nicht weiter einzugehen, denn hierfür reicht die Weisheit der Frau Nimptsch aus, die es von Martin Luther hat: »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über." Wenn sich Fontane mehr als fünfzig Jahre lang mit dem Verhältnis zu seinem Vater herumgequält hat, so müßte das Grundmuster dieses — nennen wir es — „Ibykuskomplex" hinter den Konflikten in seinen Gedichten und Erzählungen wieder zu erkennen sein: immer wieder müßten wir auf Vatergestalten und -instanzen stoßen, die einerseits sympathisch, andererseits gefährlich sind, und vor allem müßten bei Fontane die Themen männlicher Identitätsfindung und Männerfreundschaft stärker entwickelt sein als die der Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau. Ist das denn etwa nicht der Fall?
„Blasse Liebhaber" haben die Kritiker an seinen Romangestalten kritisiert, aber um so überzeugender sind die Qualen, die diese wegen ihrer Eltern durchmachen, ja, ihr Werben um die Frau steht meistens im Zeichen jener Auseinandersetzung — angefangen mit Lewin von Vitzewitz und aufhörend mit Woldemar von Stechlin. Schach von Wuthenow schießt sich eine Kugel durch den Kopf, weil er unmöglich Victoires Porträt neben das seiner Mutter hängen kann; ähnlich Graf Haldern in „Stine". Ezechiel Vanderstraaten („L'Adultera"), Graf Holk („Unwiederbringlich") und Botho von Rienäcker („Irrungen, Wirrungen") sind die sympathischen Nicht- vorbilder, die die Liebe verspielen, selbst wenn ihnen das Glück hold ist. Der Extremfall ist Baltzer Bochold („Ellernklipp"), auch der Ur-Instetten, Oskar von Pannwitz, der dem Vater sehr ähnlich geraten, wenn „Meine Kinderjahre" nicht dazwischen gekommen wäre; statt dessen entstand Innstetten als Vatergestalt mit den Eigenschaften von Fontanes Mutter. In „Unterm Birnbaum" spuken die toten Hradschek-Kinder zwar nur hinter der Szene, aber dafür springt ein gesichtsloser