Heft 
(1990) 50
Seite
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Schulz an ihrer Stelle ein, so weist dieser die autobiographischste Personenkonstella­tion aller sechzehn Romane auf. Daß Fontanes Erfolgskette mit «Grete Minde' begann, hängt, wie ich an anderer Stelle zeigen möchte, damit zusammen, daß er dort zum ersten Male die eigenen Komplexe mit der Handlung zu verknüpfen lernte.

Zweimal umging Fontane den Ibykuskomplex erfolgreich, indem er die eigenen Familienkonfliktchen thematisierte: inFrau Jenny Treibel' undDie Poggen- puhls". Zweimal versuchte er anscheinend, den Komplex an den Rand zu drücken mit dem Ergebnis, daßGraf Petöfy" undQuitt" an Konturenschwäche leiden. Eine geglückte Überwindung des Vererbungskomplexes wird man nur inDer Stechlin" erblicken können. Dabei ist kaum zu übersehen, daß Woldemar den Vater seiner Braut noch mehr verehrt als seinen eigenen. Aber nicht nur das macht es schwer, Dubslav als Vaterfigur zu interpretieren.

Deutlicher stellt sich die Frage beim alten Briest, weil die dritte Generation bereits in Sicht ist. Die herkömmliche Auslegung, diese sympathischen und vorbild­lichen Greise seien Fontanes Selbstporträts, halte ich für baren Unsinn: so narziß­tisch und bar der Selbstkritik war Fontane nicht. Mit einer solchen Auslegung wer­den die Bedürfnisse einiger Leser auf Gestalten übertragen, die kritisch betrachtet werden wollen wie alle anderen. Das einzige Selbstporträt, der ironische Sentimen­talist Willibald Schmidt, (Frau Jenny Treibel") illustriert das Prinzip. Vielmehr muß Effis Vater neben einem Herrn von Ribbeck auf Ribbeck als Großvatergestalt gesehen werden 26 . Gerade diesen Sachverhalt hat Fontane uns im fiktiven Gutsnamen Hohen-Cremmen das historische Briestsche Gut hieß übrigens Nennhausen versteckend verraten: er weist auf Fontanes eigenen Großvater hin, den einzigen Vorfahr, der es wirklich sehr weit gebracht hatte: die Königin Luise hat ihn zuerst zum Zeichenlehrer für die Kinder, später zum Kabinettssekretär ernannt.

Diesen Pierre Barthelemy Fontane hat sein Enkel Theodor kaum gekannt, und dennoch erinnert dieser sich an eine Nachtreise in der Pferdekutsche zu ihm nach Berlin, als er sechs Jahre alt war.

In raschem Trabe ging es über Alt-Ruppin auf Cremmen zu, und lange bevor wir dieses, das ungefähr halber Weg war, erreicht hatten, zogen die Sterne herauf und wurden immer heller und blitzender. Entzückt sah ich in die Pracht und kein Schlaf kam in meine Augen. Ich bin nie wieder so gefahren; mir war, als reisten wir in den Himmel 27 .

Wozu die Vorstellung des Sechsjährigen nach mehr als sechzig Jahren? Heißt das Bild nichtTod und Verklärung"? Paßt diese Metaphorik nicht in die eigenwillige Theologie, mit der Fontane das Christliche auf sich selber bezieht? Bedeuten solche Kombinationen nicht, daß für ihn die Erlösung gleichbedeutend ist mit einem freu­digen Empfang beim Großvater im Himmel? An Effis Vorstellungen vom Gott im Himmel, die die Strenggläubigen als heidnisch bekritteln, erinnert es auch. Doch der Empfang, den sein Vater und er vom wirklichen Großvater erfuhren, war ganz anders, und der Junge war gerade alt genug, um zu begreifen, daß es am väterlichen Lebenswandel lag.

Die psychologische Funktion im Einschalten des Großvaters ist gar nicht schwer zu begreifen: warum heiratet Innstetten eine von Briest? warum Woldemar eine von Barby? Doch nur aus Gründen der Legitimation, und angesichts des für Fontanes Ehrgeiz unbrauchbaren väterlichen Vorbildes war ein solcher Großvater zwar unnahbar, dafür aber auch unbezahlbar. Wer am Vererbungskomplex leidet, kann das Gefühl eines derartigen Erbes zur Schaffung der inneren Erlaubnis gut ge­brauchen.

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