Heft 
(1993) 55
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irdische Verbindung besitzt, während vom Husumer Deich dergleichen nicht überliefert ist. Die von Fontane getroffene Gegenüberstellung will offenbar vor dem Hintergrund seiner besonderen Beziehung zu Storm verstanden werden. Betrachtet man das Gesamtwerk Fontanes, so ist die Bedeutung des Hinweises auf die London-Brücke einleuchtend, aber man wird ergänzen dürfen: Fontane war auch - um eine dem Husumer Deich in etwa entsprechende Örtlichkeit zu ennen - für den Kremmer Damm, wobei er - dies wäre zu prüfen - mit diesem 'Damm' vielleicht noch in anderer Weise umzugehen wußte, als Storm mit sei- em 'Deich'. Die Bedeutung des Regionalen - hier ausgedrückt durch das egionale Symbol - auch für seine Kunst kann kaum überschätzt werden, und eine Vernachlässigung verleitet zu einer fragwürdigen Antithese. Wenn er selbst im Storm-Kapitele nich t davon spricht, so hat dies vorzugsweis kunstpsychologische Gründe, die im folgenden Exkurs, der sich auf Vorarbei- ten Peter Goldammers, Karl-Emst Laages und Dieter Lohmeiers stützen kann, erörtert werden. Der Exkurs wird unternommen im Hinblick auf das eigentli- che Thema der vorliegenden Ausführungen: Das Mißverständnis, dem Fontane in bezug auf Storm wirkungsgeschichtlich Vorschub geleistet hat, erscheint mit Fragen der Interpretation und Wirkungsgeschichte seines eigenen Werkes eng verbunden.

Exkurs: Fontane und Storm. Hauptstadt-Brücken und Kleinstadt-Deiche

Deutlicher als die Beziehung zu anderen literarischen Weggefährten steht uns die Beziehung Fontanes zu Storm vor Augen. Beide Autoren sind populär geblieben, sie sind in der Gegenwart die meistgelesenen deutschen Autoren des sogenanntenpoetischen Realismus". Im größtenteils erhaltenen Brief- Wechsel, in Rezensionen, die beide Dichter sich gegenseitig widmeten, in Fon- tanes autobiographischen Aufzeichnungen und in Erinnerungen Dritter stehen ergiebige Quellen bereit. Sie sind wiederholt untersucht worden, und sie haben immer wieder zu Aufmerksamkeit und Fragen Anlaß gegeben. Das gilt beson­ders für den Text, aus dem hier zitiert wurde. Im Unterschied zu allen zeitlich früheren, handelt es sich dabei um die ersten Aufzeichnungen Fontanes über Storm, die nach dessen Tod veröffentlicht wurden.

Daß die London-Brücke mehr zählt als der Husumer Deich, wird im Storm- Kapitel der Autobiographie nicht eigens gesagt, aber man kann es erschließen. Die gewaltigen Brücken" über die Themse waren nach Meinung des jungen Fontane,weitab das Bedeutendste, was London an Baulichkeiten aufzuweise n hatte wie er in dem Reisebuch E in Sommer in London berichtet.1 7 Besonders die Lon- don-Brücke beeindruckte ihn. Es läßt sich nichts Solideres denken , schreibt er in dem KorrespondenzartikelhStraßen, Häuser, Brücken und Paläste ,und wenn ic aufgefordert würde einem Fremden in London den Punkt zu zeigen, der mir am meisten geeignet schiene, den Charakter dieser Stadt und dieses Landes zur Anschau- ung zu bringen, so würd' ich ihn nicht nach St. Paul und nicht nach Westminster, sondern an die granitne Brüstung dieser Brücke führen und ihn dem Eindruck dieser f esten und kühn gewölbten Masse überlassen." 18 Noch 1866 in Prag zehrte Fontane von dieser Erfahrung. In seiner Berichtsfolge Reisebriefe vom Kriegsschauplatg z zitiert er, skeptisch abwägend, eine Äußerun

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