wußtsein - wenn man das anspruchsvolle Wort nicht scheut - verbergen sich in solcher Darstellung, die Erfahrungen und Irrtümer einer schwierigen Vergangenheit in überlegener Weise rekapituliert.
Bereits in den fünfziger Jahren drängte Fontane zu weiträumigen epischen Formen, an deren Ausführung er jedoch durch seine Lebensumstände gehindert wurde. Auch damals finden wir - wie bei der noch früheren Balladen- und Liederdichtung - Englisches und Preußisches benachbart. „Geschrieben hab' ich einiges, doch steht von Schill und Wolsey noch nichts auf dem Papier", heißt es 1854 in einem Brief an Storm. 82 Von einem ausgeführten Schill-Manuskript ist nichts bekannt, überliefert ist nur ein Entwurf, der „1bändiger vaterländischer Roman. Zeit von 1806 bis 9" überschrieben ist 83 - das ist also die älteste Aufzeichnung über ein Erzählwerk aus der Zeit der preußischen Erhebung. Das „Wolsey" - Fragment liegt seit 1965 in einer textkritischen Ausgabe vor. 84 Es ist nicht früher als 1857, wahrscheinlich nicht wesentlich später entstanden, also etwa gleichzeitig mit noch unbestimmten Plänen über ein Erzählwerk aus Mark Brandenburg. Vorübergehend dachte Fontane sogar an eine alphabetische Anordnung seines märkischen Stoffes: „Die Marken, ihre Männer und ihre Geschichte. Um Vaterlands und künftiger Dichtung willen gesammelt und herausgegeben von Th.F.”5 8 Der bedeutendste Speicher dieser Pläne sind die Wanderungen geworden, die für das Schaffen des Romanciers so viel erstmals gefilterten Rohstoff verfügbar machten.
Als Pläne für den Roman sich konkretisierten, wirkten konstitutiv zunächst nur der Raum und die Zeit. Berlin, das Oderbruch, die Grafschaft Ruppin (Rheinsberg), dies war die Bühne für das geplante Geschichtstheater, eingerahmt und bestimmt durch die große preußische Staatskulisse. Die Zeit: Macht und Untergang Napoleons in ihrer Wirkung auf die Menschen dieser feudalpatriarchalisch bestimmten Gesellschaft, in ihrer Prüfkraft (darin Tolstois Krieg und Frieden nicht ganz unähnlich) in bezug auf die Leidenden und Schwachen, die gemeinhin nur Objekte der Geschichte sind; die friderizianische Epoche, ästhetisch interessant auch noch in ihren nach Jena verbliebenen Resten, und Preußens neue Gestalt, wie sie sich aus dem Zusammenbruch von 1806 zu entwickeln begann. Wenn Willibald Alexis es in seinen Romanen unternommen hatte, die Geschichte Brandenburg-Preußens wie in einer Folge von Gemälden zu schildern, so unternahm Fontane es jetzt, diese Geschichte im Zeitraum von 1806-1813 wie in einem Brennspiegel zu sammeln.
Daran hat auch die nicht beendete, in einer viel weiter zurückliegenden Epoche angesiedelte Erzählung um Kardinal Wolsey geistig ihren Anteil. In der Gestalt des Grafen Shrewsbury begegnet uns in diesem Fragment Fontanes erster konservativer Charakter. Shrewsbury ist ein alternder Mann von eigenwilligem, gelegentlich starrem Rechtsgefühl. Die Krise des Staates und eine persönliche Kränkung, die er erlitten hat, haben ihn tief getroffen. Wie Berndt von Vitze- witz fühlt er sich als Angehöriger einer Schicht, die schon bevor die Königsfamilie ins Land kam, dort mächtig gewesen ist. Stärker auch als dem Monarchen weiß er sich dem Lande verpflichtet. Shrewsbury ist eigentlich ein unverbildeter Landedelmann, der mehr ins 19. Jahrhundert als in die Tudorzeit paßt - nicht viel anders als Wolsey, in dem Fontane weniger den ränkevollen Kirchenfürsten und Staatskanzler als den maßlosen und um seiner Maßlosigkeit willen
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