Berlin dient während einiger Kapitel als Nebenschauplatz, quantitativ mögen die der Hauptstadt gewidmeten Seiten an Zahl etwa denen in Vor dem Sturm entsprechen. Die Übereinstimmungen zwischen beiden Romanen sind zahlreich. Nicht zuletzt Figurenkonstellationen kehren wieder. Die Bedeutung, die dem einst in so mühevollem, langjährigem Arbeitsprozeß entstandenen Erstlingsroman für Fontanes Schaffen insgesamt zukommt, wird durch die Wiederaufnahme einer ganzen Gedankenwelt durch den an der Schwelle des Todes stehenden Autor erkennbar.
Der Stechlin entsteht - und das ist für Fontane durchaus untypisch - sehr schnell, die sonst bei Fontane übliche Lagerung der bereits mehr oder weniger ausgeführten Entwürfe entfällt. Der Stoff ist freie Erfindung, was sich allerdings insofern fast von selbst versteht, als der Roman bekanntlich kaum eine Handlung aufweist. Einige Änderungen in der Erzählung, die mit Rücksicht auf aktuelle Vorgänge während der Niederschrift noch vorgenommen wurden, sind für den Geist des Werkes ohne Bedeutung. Ganz überwiegend verwendet Fontane von neuem alte Motive. Wieder gibt es „zahlreiche Fahrten durch die Mark, obligate Kirchen- und Schloßvisitationen, historische Exkurse, Kunstgespräche, Einlagen und und Anekdoten die Fülle. Und bis ins einzelne geht die stofflich-formale Parallelität. Wir werden bei Stechlin und Kloster Wutz an Hohen-Vietz und Gusow, beim alten Dubslav und der Domina an Berndt und Amelie erinnert und denken schon im Eingang, dem Ritt Woldemars von Berlin auf den väterlichen Stammsitz, an die Fahrt Levins (!), mit der Vor dem Sturm anhebt". 101
Allerdings spielt Der Stechlin am Ende des Jahrhunderts, also in der Gegenwart, Vor dem Sturm an seinem Anfang. Die technischen Mittel, über die man verfügt, haben sich - wie so vieles andere in der Welt - gründlich verändert und mit ihnen das Bewußtsein. Das schlägt sich schon bei der ersten Tischunterhaltung in einem Gespräch über Telegraphie nieder. „Schließlich ist es doch was Großes", bemerkt der alte Dubslav, „diese Naturwissenschaften, dieser elektrische Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt nichts daran), so könnten wir den Kaiser von China wissen lassen, daß wir hier versammelt sind und seiner gedacht haben.”02 1
Die veränderten Kommunikationsmöglichkeiten bilden indessen nicht den eigentlichen Grund dafür, daß uns der letzte Roman urbaner noch und weitläufiger anmutet als der erste. Die Ursache liegt vielmehr in der veränderten künstlerischen Technik. Vieles, was in Vor dem Sturm noch Anlaß zu farbensatter, „realistischer" Schilderung gab, wird im Stechlin nur noch benannt, nicht mehr wirklich vergegenwärtigt. Dagegen ist die Aufmerksamkeit für das im eminenten Maße gesellschaftliche Medium des Gesprächs, das auch schon in dem Erstling eine so große Rolle spielte, in nicht mehr zu überbietender Weise gewachsen. „Einerseits auf einem altmodischen märkischen Gut, andrerseits in einem neumodischen gräflichen Hause (Berlin) treffen sich verschiedene Personen und sprechen da Gott und die Welt durch. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, und mit ihnen die Geschichte", hat Fontane im Entwurf eines Briefes an Adolf Hoffmann 1897 über seinen Roman geschrieben und hinzugefügt : „Natürlich halte ich dies nicht nur für die richtige, sondern sogar für die gebotene Art einen Zeitroman zu schreiben (,..)" 103 Wo die vertrauten Örtlichkeiten nur noch
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