Heft 
(1993) 55
Seite
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Fontane selbst hatte in den 50er Jahren in England die Werke Turners studiert und mehrfach seinen deutschen Lesern davon berichtet. In seinen Aufsätzen über die großen Berliner Kunstausstellungen und in den Aufzeichnungen, die er während seiner italienischen Reise niederschreibt, setzt er sich immer wie­der mit der Frage auseinander, welche Bedeutung der Farbe in der Kunst zukomme und welche Berechtigung das Urteil eineskritischen Dilettanten" habe. Beide Fragen werden im 19. Jahrhundert mit Verve diskutiert, zunächst zwischen Goethe und Friedrich Schlegel, später dann von Jakob Burckhardt, Konrad Fiedler und Max Liebermann. So soll im folgenden zu fragen sein, inwieweit Fontane zentrale kunsttheoretische Überlegungen seiner Zeit auf­greift und sie seinen eigenen Ansichten und Stellungnahmen zur Kunst, seinen Kritiken und Bildbeschreibungen zugrunde legt. Mit den Kunsthistorikern Franz Kugler und Jakob Burckhardt befreundet oder bekannt, mit den Malern Adolph von Menzel und Max Liebermann in regem Austausch stehend, ent­wickelt Fontane ein kritisch-liberales Verständnis von Kunst, das für sein litera­risches Schaffen später grundlegend wird. Nicht nur in seinen Romanen greift Fontane auf ein beachtliches Bildwissen und die Beschreibung oder Kritik eini­ger hundert Gemälde zurück, auch seine theoretische Begründung des Realis­mus weist Parallelen zu den ästhetischen Reflexionen der zeitgenössischen Malerei und Kunstphilosophie auf. Am Beginn dieser Entwicklung steht die Beschäftigung mit der romantischen und klassischen 'Sehweise', die er in mehr als 20 Jahren für die Beurteilung der Präraffaeliten, der Impressionisten und Naturalisten fruchtbar zu machen versteht.

Ein erster Hinweis auf die Bedeutung der Worte des Malerprofessors Cujacius im kunstgeschichtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts mag diese Einschätzung einleitend bekräftigen. In seiner 1821 verfaßten Kritik zu La Cena, Pittura in muro di Giotto, drei großformatigen Stichen F. Ruscheweyhs nach Giottos Wandgemälden in S. Croce, hatte Goethe dieGestrengen" angegriffen, die ihre Urteile aufunverdaute Schönheitsbegriffe" zurückführen und sich dabei auf Giottoslange steife Figuren" berufen. 2 Solche Puristen, die sich nahezu ausschließlich mit der wahrheitsgetreuen Wiedergabe der Natur beschäftigen, verderben ihm denGenuß am Kunstwerk". 3 Um nun nicht selbst bei jener Form der Kunstkritik zu verweilen, die gleich mit denFehlern" eines Bildes beginnt, leitet Goethe zu der Frage über, welcher Aussagewert den strengen Umrißzeichnungen der Gestalten in den Fresken Giottos zukomme. 4 Für Goethe spricht Giottos Kunst den Menschen des 19. Jahrhunderts nur noch bedingt an, denn die genaue Linienführung des alten Meisters erschwert dem modernen Kunstliebhaber die Deutung des Bildzyklus. Dem Betrachter, der den Bildern dennoch gerecht werden möchte, rät Goethe dazu, sie aus ihrer Zeit heraus verstehen zu wollen. Nur ein solch 'sozialgeschichtliches' Studium helfe dasGemütvolle, Treuherzige" der berühmten Fresken zu erschließen. Doch auch diese Annäherung strebt nicht nach vorgeblicher Neutralität, sie schließt eine Wertung im Sinne des modernen Zeitgeistes keineswegs aus. Mit kaum verhohlenem Spott über die Malerei der Romantiker weist Goethe darauf hin, trotz aller näheren Kenntnis der Florentiner Kunsttradition könne kein Zweifel darüber bestehen, daß Giotto noch mit relativerSimplizität" 5 male und aus diesem Grund gerade für die Künstler des frühen 19. Jahrhunderts als

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