Vorbild kaum in Frage kommen könne. Da es den folgenden Zeitaltern Vorbehalten geblieben sei, die sich aus der engen Bindung an die kirchlichen Auftraggeber rekrutierende Befangenheit Giottos zu überwinden, schlägt Goethe vor, die Interpretation kunstgeschichtlicher Zeugnisse müsse stets entwicklungsgeschichtliche Vergleiche mit Werken späterer Epochen berücksichtigen. Beispielhaft stellt er in seiner Rezension abschließend den Maler der Frührenaissance dem Entdecker der „linea serpentinata" gegenüber, dessen perspektivisch angelegte, farbige Studien bis in unsere Tage als „Ausdruck intensivster organischer Bewegtheit" 6 gewürdigt werden. Am Beispiel Giottos und Leonardo da Vincis präzisiert Goethe seine These, die Vorherrschaft der Zeichnung lasse Giottos Abendmahl im Vergleich mit dem des Leonardo im Kloster Santa Maria delle Grazie zu Mailand unfrei wirken, wohingegen in der Darstellung da Vincis „alles lebt, alles ist in Bewegung". Folgt man Goethe, so ist es erstmals Leonardo gelungen, die Möglichkeiten der Farbgestaltung zu bedeutendem Rang zu erheben und mit deren Hilfe individuelle Charaktere in seinen Bildern herauszuarbeiten: „die Mannigfaltigkeit der Affekte, der Gebärden kann nicht größer sein". 7 Diese bahnbrechende Entdeckung erlaube es ihm, sich von den Vorstellungen der kirchlichen Bildtradition zu lösen und damit eine Kunst zu schaffen, die über die Jahrhunderte ihre Lebendigkeit nicht verlieren werde.
Gegen diese Vereinnahmung einer älteren Malweise durch die Klassik argumentiert Friedrich Schlegel in seinen Gemälden alter Meister. Energisch spricht sich Schlegel gegen die Auflösung eines durchkomponierten und meist pyramidalen Bildaufbaus zugunsten eines freien Auftrags der Farben aus und fordert wieder „strenge, ja magre Formen in scharfen Umrissen (...), keine Mahlerei aus Helldunkel und Schmutz in Nacht und Schlagschatten (...), in den Gesichtern (...), bei aller Mannichfaltigkeit des Ausdrucks (...) gutmüthige Einfalt und Beschränktheit". 8 Während Goethe darauf hinweist, jedes einzelne Apostelgesicht spiegle bei Leonardo den je eigenen Eindruck auf Jesu Worte wieder, betont Schlegel, allein ein naiver Ausdruck aller Beteiligten hätte dem „ursprünglichen Charakter der Menschen" entsprochen. 9 - Dieses von Professor Cujacius als Revolution gefeierte Bekenntnis zur 'ordentlichen' Wiedergabe des Konturs der Bildgegenstände - eine Revolution die endlich wieder „Rückkehr heißt"1 0 - beschäftigt die Kunstwissenschaft für die folgenden 100 Jahre. In seiner epochemachenden, erstmals 1915 erscheinenden Studie über „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" schreibt Heinrich Wölfflin, ein Schüler Jacob Burckhardts, daß nur die von allen zeichnerischen Gesichtspunkten gelöste Behandlung der Farbe das Temperament und die Persönlichkeit des Künstlers ausdrücke und ihn, dies hatte ja auch Woldemar angemerkt, von aller Typik und Starre in der formalen und thematischen Umsetzung fernhalte. Das „line- ar e Sehen" und Zeichnen scheidet nach Wölfflin „fest" zwischen „Form und Form", während das „malerische Auge" den Farben der Bildgegenstände „jene Bewegung" verleihen soll, „die über das Ganze der Dinge hinweggeht." Wenngleich um mehr Neutralität bemüht, entscheidet sich Wölfflin ebenso wie Theodor Fontane letztlich für Goethes Argumentation und damit auch für das 'zeitgemäßere' Malen in „Fleckenerscheinungen", die aus dem Kontrast der „Helligkeiten und Dunkelheiten" an Leben gewinnen. Mit dieser Konzentration auf
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