Heft 
(1993) 55
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Vorbild kaum in Frage kommen könne. Da es den folgenden Zeitaltern Vorbe­halten geblieben sei, die sich aus der engen Bindung an die kirchlichen Auf­traggeber rekrutierende Befangenheit Giottos zu überwinden, schlägt Goethe vor, die Interpretation kunstgeschichtlicher Zeugnisse müsse stets entwick­lungsgeschichtliche Vergleiche mit Werken späterer Epochen berücksichtigen. Beispielhaft stellt er in seiner Rezension abschließend den Maler der Frühre­naissance dem Entdecker derlinea serpentinata" gegenüber, dessen perspekti­visch angelegte, farbige Studien bis in unsere Tage alsAusdruck intensivster organischer Bewegtheit" 6 gewürdigt werden. Am Beispiel Giottos und Leonar­do da Vincis präzisiert Goethe seine These, die Vorherrschaft der Zeichnung lasse Giottos Abendmahl im Vergleich mit dem des Leonardo im Kloster Santa Maria delle Grazie zu Mailand unfrei wirken, wohingegen in der Darstellung da Vincisalles lebt, alles ist in Bewegung". Folgt man Goethe, so ist es erst­mals Leonardo gelungen, die Möglichkeiten der Farbgestaltung zu bedeuten­dem Rang zu erheben und mit deren Hilfe individuelle Charaktere in seinen Bildern herauszuarbeiten:die Mannigfaltigkeit der Affekte, der Gebärden kann nicht größer sein". 7 Diese bahnbrechende Entdeckung erlaube es ihm, sich von den Vorstellungen der kirchlichen Bildtradition zu lösen und damit eine Kunst zu schaffen, die über die Jahrhunderte ihre Lebendigkeit nicht ver­lieren werde.

Gegen diese Vereinnahmung einer älteren Malweise durch die Klassik argu­mentiert Friedrich Schlegel in seinen Gemälden alter Meister. Energisch spricht sich Schlegel gegen die Auflösung eines durchkomponierten und meist pyra­midalen Bildaufbaus zugunsten eines freien Auftrags der Farben aus und for­dert wiederstrenge, ja magre Formen in scharfen Umrissen (...), keine Mahle­rei aus Helldunkel und Schmutz in Nacht und Schlagschatten (...), in den Gesichtern (...), bei aller Mannichfaltigkeit des Ausdrucks (...) gutmüthige Ein­falt und Beschränktheit". 8 Während Goethe darauf hinweist, jedes einzelne Apostelgesicht spiegle bei Leonardo den je eigenen Eindruck auf Jesu Worte wieder, betont Schlegel, allein ein naiver Ausdruck aller Beteiligten hätte dem ursprünglichen Charakter der Menschen" entsprochen. 9 - Dieses von Profes­sor Cujacius als Revolution gefeierte Bekenntnis zur 'ordentlichen' Wiedergabe des Konturs der Bildgegenstände - eine Revolution die endlich wiederRück­kehr heißt"1 0 - beschäftigt die Kunstwissenschaft für die folgenden 100 Jahre. In seiner epochemachenden, erstmals 1915 erscheinenden Studie überKunstge­schichtliche Grundbegriffe" schreibt Heinrich Wölfflin, ein Schüler Jacob Burckhardts, daß nur die von allen zeichnerischen Gesichtspunkten gelöste Behandlung der Farbe das Temperament und die Persönlichkeit des Künstlers ausdrücke und ihn, dies hatte ja auch Woldemar angemerkt, von aller Typik und Starre in der formalen und thematischen Umsetzung fernhalte. Dasline- ar e Sehen" und Zeichnen scheidet nach Wölfflinfest" zwischenForm und Form", während dasmalerische Auge" den Farben der Bildgegenständejene Bewegung" verleihen soll,die über das Ganze der Dinge hinweggeht." Wenn­gleich um mehr Neutralität bemüht, entscheidet sich Wölfflin ebenso wie Theo­dor Fontane letztlich für Goethes Argumentation und damit auch für das 'zeit­gemäßere' Malen inFleckenerscheinungen", die aus dem Kontrast derHel­ligkeiten und Dunkelheiten" an Leben gewinnen. Mit dieser Konzentration auf

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