Heft 
(1993) 55
Seite
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die bewegten Lichtverhältnisse verliert auch der gegliederte Bildaufbau an Bedeutung, was jedoch, wie Wölfflin hinzusetzt, dem Wesen der Neuzeit näherkomme und das einzelne Bild erst 'erlebbar' werden lasse:

Wenn man den Unterschied der Kunst Dürers und der Kunst Rembrandts auf einen allgemeinsten Ausdruck bringen will, so sagt man, Dürer sei zeichne­risch und Rembrandt sei malerisch. (...) Die malerische Art ist die spätere und ohne die erstere nicht wohl denkbar, aber sie ist nicht die absolut höherstehen­de. (...) Es sind zwei Weltanschauungen, anders gerichtet in ihrem Geschmack und ihrem Interesse an der Welt und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben." 11

Mit der Debatte über die Fortschrittlichkeit und Lebensnähe der Kunst verbin­den Klassik und Romantik auch ihr kunsterzieherisches Programm, das stellen­weise bemerkenswerte Überschneidungen und Konsequenzen aufweist. So bindet Goethe die 'moderne' und eigentlich von allen technischen Vorgaben nahezu befreite Malerei in der Wahl ihrer Inhalte an das Ideal eines als allge­meingültig ausgewiesenen Humanismus griechischer Prägung. Im Gegenzug fordert die Romantik den Künstler dazu auf, sich von den antiken Vorbildern zu lösen und die kirchlichen oder landschaftlichen Vorwürfe möglichst indivi­duell zu interpretieren, hinsichtlich der Zeichnung und des Bildaufbaus jedoch nach dem Vorbild Albrecht Dürers zu verfahren. Noch Fontanes Programm des 'verklärenden Realismus' weist deutliche Anklänge an diese Kontroverse auf. Allerdings geht er früh schon eigene Wege, die nach einer Vermittlung zwi­schen klassisch-griechischer Idealität und romantischer Formen- oder Kontur­strenge suchen. Auf seinen Grenzgängen zwischen den kunsttheoretischen Gräben entscheidet sich Fontane zugunsten einer künstlerischen Praxis, die ihre Stoffe der aktuellen Lebenswelt entnimmt. Da Malerei und Literatur einer in steter Entwicklung begriffenen 'Seh-Schule' dienen, lenken sie nach Fonta­nes Worten den Blick des Lesers oder Bildbetrachters nicht nur auf den Alltag, sondern unterrichten ihn zugleich noch über die je eigene Deutung des Lebens, die der Künstler in seine Werke einfließen läßt. Insofern steht Fontane dem Malerprofessor auch fern, fordert dieser für die Malerei eine Beschränkung auf nationale oder christliche Motive. Nur die These, alle Kunst habe einen ethi­schen Auftrag zu erfüllen, übernimmt er - aber er füllt dieses Postulat mit Inhalten, die sich der Tradition des kritisch räsonierenden aufgeklärten Bürger­tum des späten 18. Jahrhunderts anschließen. Fontane gleicht insofern seinem alter ego in Frau Jenny Treibel, eben jenem Wilibald Schmidt, dem Bewunderer von Romantik und Klassik, der sich für den 'halbgebildeten' Heinrich Schlie- mann begeistert und gegen den schablonenhaften Historismus seiner Kollegen mit feiner Ironie aufmerkt. Nach Schmidt haben es sich die Wissenschaften und Ästheten neueren Datums zur Aufgabe gemacht, das Erbe der Klassik und Romantik wissenschaftlich zu scheiden und damit gleich auch alle fruchtbaren Widersprüche zum Schweigen zu bringen. Mit diesen zum Teil künstlich gezo­genen Grenzen geht eine Tendenz zum Schönheitlichen und Erbaulichen ein­her, die aus Wilibalds Sicht gerade den saturierten neupreußischen Kunstge- nießern vom Schlage der Kommerzienrätin entgegenkommt. Daß seine provo­kanten und 'schwankenden' Ansichten den gestrengen Freunden suspekt blei-

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