Heft 
(1993) 55
Seite
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begibt. In seiner Abhandlung greift Ruskin ebenfalls die von der Romantik gestellte Frage auf, welcher Voraussetzungen es für den Maler bedürfe, um die Stimmung der Natur fühlen und darstellen zu können. Für die Landschaftsma­lerei verlangt er vom Maler, er müsse zum einenin des Beschauers Seele die getreue Vorstellung irgend welcher Naturobjekte bewirken", zum anderen die Gedanken und Gefühle, mit denen der Künstler sie geschaut hat, erschließen ." 37 Um sich von der inzwischen allmächtigen Stellung der Wissen­schaften und neuen Technologien abheben zu können, schlägt Ruskin den Künsten vor, die noch unverdorbene Natur im Sinne eines Gegenmodelles zum aufgeklärten Naturbild darzustellen. Diese neue Kunst soll sich den Mustern und Regularien des Sprechens und Denkens entziehen und nach rein malerischen Interpretationsmöglichkeiten der Welt suchen. Mit dieser Auffor­derung, die Natur nicht länger als ein letztlich fremdes Objekt wahrzunehmen, hält der Ästhetizismus seinen Einzug in die Kunstgeschichte der zweiten Jahr­hunderthälfte:Wir sollten Bilder nicht als Autorität für die Natur, sondern als Kommentar der Natur betrachten ." 38 Eine höhere Wahrheit oder Stimmung der Natur kann Ruskin zufolge daher nur wiedergegeben werden, wenn sich der Maler eines breiten Farbenspektrums und einem verschwimmendem Linea­ment bedient. Nur auf diesem Weg sieht er ein 'Gespräch' zwischen Betrachter und Bild zustandekommen:Der Maler, der die Natur liebt, wird darum nur das malen, was sich darstellen lässt, und das übrige durch die Einbildungs­kraft des Beschauers ergänzen lassen ." 39 Dies genau ist der Anknüpfungs­punkt, den Fontane in Deutschland, Dickens in England oder Zola in Frank­reich wählen, um sich in ihren poetischen Bildbeschreibungen und Kritiken mit der zeitgenössischen Malerei auseinandersetzen zu können. Die Farbe ent­decken die Literaten der Jahrhundertmitte als zentrales Mittel des Künstlers, um das je eigene Temperament (Zola) zum Ausdruck zu bringen. Licht- und Schatteneffekte erzielen eine Tiefen- oder Raumwirkung, die für den Betrach­ter Freiräume schafft, seine Phantasie mit Hilfe des Bildes schweifen zu lassen. Gelungen findet sich diese Umsetzung von Schönheit, Gefühlsintensität und 'reiner' Geistigkeit nach Ruskin erstmals bei William Turner, dem einzige n Maler, derdas Ungewisse darzustellen" vermag, dasständig pulsierende Weben der Natur (...), wo die Einheit der Vorgänge Ausdruck der Unendlich­keit ihres Urhebers ist ." 40 Folgt man Ruskin, so ist es Turner gelungen, Elemen­te der romantischen und klassischen Kunsttheorie miteinander zu verbinden. Und diese Melange erlaubt es Ruskin auch, selbst Goethes Prämisse, Kunst­werke sollten zunächst erfahren werden, für seine Konzeption des 'unschuldi­gen' kindlichen Sehens und für die Deutung des Symbolischen anzuwenden. Suchen der Maler und der Kunstliebhaber gleichermaßen nach den geheimen Verbindungen der Naturelemente untereinander, so nähern sich beide P er - spektiven auch einander an. Dafür bedarf es, wie Ruskin unter Berufung auf Goethe hinzufügt, einesZusammenfassens unendlicher Mannigfaltigkeit, wohingegen dasDenken ein Versuch des Zerlegens" bleibt . 41 Im Falle Turner bietet es sich daher nach Ruskin geradezu an, auf die Suche nach tieferlieg en- den Gedanken zu verzichten und das einzelne Bild frei von allen Erwartung en und als Ausdruck einer 'sprachlosen' Wiedergabe der Naturstimmungen zu genießen.

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