Heft 
(1993) 55
Seite
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Aufforderung an das deutsche Publikum versteckt, sich auf das Spiel von Gefühl und Wahrheit, das ein Spiel mit der Anschauung ist, vorurteilsfrei ein­zulassen:

(...) wen es nebensächlich dünkt, die Bäume als Bäume und die Menschen als Men­schen zu malen, wenn er nur seinerseits imstande ist, das Gefühl der Einsamkeit, des Schreckens, der Unendlichkeit, der Sehnsucht oder träumerischen Entzückens in uns hervorzubringen, der ist wie berufen, ein Seemaler zu werden

Turners eingangs erwähnteExzentrizität" gründet für Fontane folglich nicht im Malen des Formlosen an sich, sondern im Versuch, die Dinglichkeit der Gegenstände der 'Willkür' der Farben so weit unterzuordnen, daß der Ein­druck entsteht, die Welt sei nur noch für die Palette des Malers existent: er schien mit Licht malen zu wollen. " Dem Licht, so präzisiert Fontane, komme insofern keine Wahrheit zu, als es an sich keine faßliche Qua­lität besitze. Bei Turner steht das Licht gelegentlich als ein bildhaftes Symbol, das sich aus welthafter Physik in sphärische Metaphysik verflüchtigt und daher auf eine Unendlichkeit anspielt, aus der es keine Rückkehr gibt:Das ist poetisch, aber gehört nicht in die bildende Kunst. Mit der Preisgabe des Weltbe­zugs entschwebt der Blick des Zuschauenden ins Jenseitige:Wie schöne schwindsuchtskranke Mädchen immer lichtvoller (...) vor uns wandeln, so fiel zuletzt, wie ein bloßer Rest von irdischer Schwere, die Farbe von Turners Bildern ab".4t 9 Mi dieser Präzisierung des Wahrscheinlichkeitsgebotes, das die Wahrheit in erster Linie an den diesseitigen Blick des Malers bindet, kann auch die Kritik des Sen­timentalen besser umschrieben werden. Was des Welthaften entbehrt, wozu Fontane durchaus noch das Malen in farbigen Impressionen zählt, nimmt für ihn den Charakter religiös-mystischer Weltentfremdung an:Schwärmen ist flie­gen, eine himmlische Bewegung nach oben ." 50 Bestimmt Fontane Turners objektlose Malerei als künstlerisch wertvolle und für die Entwicklung der Malerei weg­weisende Studien, so versteckt sich hinter dieser kunsthistorischen Würdigung der Verdacht, dem Unkundigen blieben solche Versuche wenig verständlich. Längstens an diesem Punkt muß deutlich werden, daß Fontanes Urteile immer auch sozial motiviert sind und eine Ausgrenzung der Laien in dieser Form nicht teilen. Der Essay über die Ausstellung im Malborough-House endet denn auch mit der Besprechung eines Bildes, das neben dem bereits erwähnten Itali- enbild für Fontane zu den bedeutendsten Werken Turners zählt. Während des­sen Bilder, die nur den Geist ansprechen, der 'bodenständigen' Anschauung aber ihr Recht verweigern, auf Fontane dunkel wirken, fehlt es im Begräbnis David Wilkies nicht an jenem Element, das 'symbolisch' zwischen Himmel und Erde steht: Das weite Meer und das Schiff im Bild sind nicht minder farblos und erinnern an die unsagbare Unendlichkeit - aber sie bringen das Letzte, den Tod, noch auf einen irdischen Begriff. In seiner Bildbeschreibung subsummiert Fontane daher den Gang des Endlichen unter das sprachliche Bild, das sich landläufig an den Tod knüpft:

Alles grau, Himmel, Meer und die Felsen, die in der Ferne ragen; nur eine Signalrake- te steigt mit weißem Lichtglanz in die Luft. Und durch das graue, stille Meer schaukelt der Steamer, schwarz der Rumpf, schwarz die Segel und schwarz der Dampf, der wie eine Trauerfahne weht. Das ganze ein Riesensarg. 5 1

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