Heft 
(1993) 55
Seite
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Blindekuhspiel. Seine Bilder geben in ihrerkindlichen Heiterkeit" denAusdruck fortschreitender, andauernder Bewegung", allerdings anders, als es den Vorläufern des Films möglich ist, jenenbemalten Drehscheiben, auf denen sich ein und dieselbe Figur in sechs oder acht verschiedenen Attitüden präsentiert". Fontane führt aus, erst die Drehung der Scheibe vermittle den Eindruck, diese Bilder lernten das Lau­fen. Bei Wilkie hingegen ist dieLücke", die durch eine physikalische Täuschung des Auges aufgehoben wird, durch eine einheitliche Bewegung im Bild ge­schlossen. Um diese kunstgeschichtlich bedeutsame Leistung nachvollziehen zu können, muß der Betrachter in seiner Phantasie diemannigfachsten Stellungen" der Blindekuhspieler 'zusammensehen', will er eineGesamtwirkung" erzielen, die der Bewegung selber gleichkommt. Es ist, als ob er statt des einzelnen Momentes eine Reihenfolge von Momenten, den Verlauf des Spieles, festgehalten hätte ." 56 Fontanes ausführliche Besprechung dieser für ihn einzigartigen Lebendigkeit in Wilkies Bild berührt ein Thema, daß seit Lessing die Kunsttheorie beschäf­tigt. Lessing hatte in seinem Laokoon die These aufgestellt, die Malerei könne nur angehaltene Momente darstellen, während es allein der Literatur möglich sei, mit Hilfe der ihr eigenen künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten und der Phantasie des Lesers eine Raum-Zeit-Wirkung vorzutäuschen. Was Lessing am Beispiel der Laokoon-Plastik auseindersetzte, das Problem des im Bild nur starren Wirklichkeitsauschnittes, scheint durch Wilkies Gemälde in der engli­schen Malerei erstmals überwunden. Die berechtigte Frage, ob es nun die Phantasie des Betrachters sei, die den Schein erwecke, 'als ob' sich die Figuren bewegten, oder ob der Maler tatsächlich Bewegung wiedergebe, beantwortet Fontane mit dem Hinweis auf jenes 'Gespräch', das zwischen Bild und Betrach­ter stattfinden müsse. Hatte Goethe noch in Ablehnung der Thesen Lessings die Bedeutung der Phantasie des Sehenden im Bildprozeß aufgewertet, so ent­deckt die Malerei - zumindest in den Augen Fontanes - die kompositioneile Gestaltung unter Zuhilfenahme diverser 'Leerstellen'.

Auf diese bewußt gelockerte formale Ausgestaltung hatte Goethe in seiner Schrift Über Laokoon hingewiesen. Erstmals forderte Goethe hier, die berühmte Plastik nicht als gelungene Umsetzung der entsprechenden Passage aus Homers Odyssee zu würdigen, sondern zunächst einmal einen Vater wahrzu­nehmen, der für das Überleben seiner beiden Söhne kämpfe. Gleichzeitig sieht er mit den drei Figuren ein freieres didaktisches Kunstprogramm verwirklicht, dem es gelungen sein soll, eine bewegende Szene festzuhalten, die dem Betrachter die Möglichkeit eröffne, den Ausgang des dargestellten Angriffs der Schlangen auf die drei Personen weiterzudenken:

Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein . 57

So kann nach Goethe der Biß der Schlange den Priester Laokoon töten, aber der Kampf läßt wegen des Ineinanders vonStreben und Fliehen", vonWirken und Leiden" auch noch andere Deutungsmöglichkeiten offen. Wenngleich Lao- koons Ende dem Leser Homers bekannt ist, so muß er die Plastik nicht notwen

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