Mit diesen theoretischen Erörterungen des vielfältigen Verhältnisses von Bildgehalt und einer erzieherisch bedachtsamen Schulung der Phantasie beschäftigt sich auch Fontane, arbeitet er am Beispiel Wilkies die geistig anregende und offene Konzeption eines Bildes heraus. Um den Zusammenhang erörtern zu können, der für ihn zwischen der formalen und inhaltlichen Darstellung besteht, widmet er sich den Genre-Bildern des Briten:
Wir haben in diesen nicht leicht zu überschätzenden Arbeiten die Wirklichkeit ohne Roheit, wir haben den Hauch des Idealen ohne Einbuße an Wahrheit, wir haben schlichte, leibhaftige Menschen, aber wir haben sie in Sonntagsstimmung und in verklärender Freude
Damit nun nicht der Eindruck aufkommt, hier werde der Wochenendspaziergang des Bildungsbürgers ins Museum gerechtfertigt, verzichtet Fontane auf die ausführliche Beschreibung des Blinden Fiedlers oder verwandter Stücke und wendet sich gleich jenem Bild zu, an dem sich der Genuß als eine geistige Regsamkeit veranschaulichen läßt. Da der Maler des Blindekuhspiels den Betrachter im Unklaren darüber läßt, wohin sich die Figuren in Raum und Zeit bewegen, regt er die Phantasie spielerisch an, sich über die Szenerie hinaus mit den verschiedenen Figuren auseinanderzusetzen. Somit entschlüsselt sich erst aus dem Verhältnis des Bildpersonals untereinander die weiterreichende Mitteilung des Bildes. Es ist der Sinn auch des Blindekuhspieles, daß sich zunächst einmal alle Spielenden über die Regularien einigen müssen, um sich im folgenden gewissermaßen über die Gebote hinweg frei und selbständig bewegen zu können. Ohne diese Möglichkeiten der individuellen Gestaltung verlöre jedes Spiel an Reiz. Aus dieser Perspektive betrachtet, die das Blindekuhspiel im ironischen Rekurs an Fontanes Auffassung des sozialen Zusammenlebens erinnern läßt, wird offenbar, warum Wilkies Ausstellungsbeitrag für den Dichter überhaupt beschreibbar wird. Wilkie läßt den Betrachter an der Bewegung der gemeinsam Spielenden teilhaben, um ihn auf höherer Ebene mit den Sinngehalten der bewußten 'Täuschung' der kunsttechnischen und lebensfeindlichen Regeln vertraut zu machen. Mit seinem Beitrag schildert der Maler daher nicht bloß ein Spiel, er umschreibt den humorvollen Blick auf das Leben selbst, ohne dafür der Symbole zu bedürfen, die jede Figur nur zum Sinnbild einer weisheitsvollen und sich auf eingefahrene Dogmen berufenden Regelmetrie herabwürdigen würde:
Das Höchste, was die Kunst nach dieser Seite hin zu leisten pflegt, ist, daß sie den Moment festhält und wohl ein bestimmtes Sta dium innerhalb der Bewegung, aber nicht die Bewegung selber wiedergibt. Diesem äußersten Maß der Täuschung indes ist die Wilkiesche Kunst gewachsen gewesen . 63
Fontanes Beschäftigung mit Wilkie thematisiert zugleich auch die kompl exe Sinnstruktur, die zwischen dem Sehen und dem Beschreiben eines Bildes existiert. Insofern strebt Fontane auch keine Interpretation des Bildes an, vielmehr sucht er nach der von Wilkie intendierten, letztlich aber niemals völlig zu erschöpfenden Spannung zwischen Betrachter und Künstler. Die Auslegung eines solchermaßen deutungsoffenen Bildes kann aus seiner Sicht nicht über ihren Gegenstand hinausschießen, denn Bilder, die Gedanken aufweisen,
84