Heft 
(1993) 55
Seite
96
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Um dies in den Griff zu bekommen, ist an Formulierungen zu erinnern, mit denen Walter Müller-Seidel schon vor Jahrzehnten das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Menschlichkeit gekennzeichnet hat. 10 Nicht so sehr hand­le es sich in den Romanen um das Konfliktpotential der Standesschranken als vielmehr darum,daß die Menschen in allen Klassen von der Gesellschaft in bestimmter Weise geprägt werden, gleichwohl [gleichviel?] ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Das, was sie als Menschen sind, wird überdeckt von dem, was die Gesellschaft aus ihnen macht. Dieser Einfluß hat eine Minderung des Menschen zur Folge, die zur Kritik herausfordert" (S.178).Natürlichkeit", Menschlichkeit" suche sich gegenüber Konvention und Gesellschaft zu behaupten - regelmäßig ohne Erfolg.Einen gleichsam paradiesischen Bereich außerhalb der Gesellschaft" (S.186) gibt es nicht;die Gesellschaft ist überall; daher gibt es auch das völlig reine, vom Gesellschaftlichen ungetrübte Glück des Natürlichen nicht. Die Natürlichkeit in ihrer reinsten Ausprägung, unver- mischt von [sic] allem Gesellschaftlichen, bleibt ein Traum" (S.186) - gleichgül­tig, ob die Realität die der Standesgegensätze wie in Irrungen, Wirrungen oder der Konflikte innerhalb einer Klasse sind wie in Effi Briest. Die Flucht ins Paradies" nach Hankels Ablage kann nur auf kürzeste Zeit gelingen, schon bricht dieGesellschaft" in einer bis ans Selbstparodistische überdeutlichen Form in das Idyll ein; Effi Briests Flucht in die Krankheit könnte selbst ein Dr. Rummschüttel keine Dauer verleihen; die Sängerin Trippelli bleibt trotz großfürstlich-russischer Episoden das kleinbürgerliche Fräulein Trippel, die Pastorstochter aus Kessin, ebenso wie Fontane selbst von derBrotbaude bei Krummhübel (Riesengebirge)" -Hier ist es wundervoll, vor allem weil man aus dem Menschenthum fast ganz heraus ist" 1 1 - und zurück muß nach Berlin in die Pots­damerstraße 134 c, wo allerlei Menschentum, auch das übelste, die Türglocke zu ziehen pflegt. Ein Heraus aus der Gesellschaft gibt es nicht. Was für Fontane Menschlichkeit ist, hat sich gerade in der Gesellschaft als unumgängliche Daseinsform des homo sapiens zu bewähren, nicht jenseits ihrer im Exotischen - dies übrigens ein richtig verstandener Rousseauismus im Gegensatz zu dem falsch verstandenen Zurück zu Adam und Eva ins Paradies (ohne Schlange offenbar), den Fontane in Stine zitativ aufrief. Müller-Seidel:

Fontanes Skepsis bewahrt ihn davor, einer Natürlichkeit außerhalb jeder gesellschaftlichen Ordnung das Wort zu reden, die es nicht gibt. Sie bewahrt ihn vor der Flucht in die sentimentale Idyllik deseinfachen Lebens". Er behandelt als Erzähler Spannungen und Konflikte der Gesellschaft. Er stellt sie dar - im Grunde als unvermeidbar. Erst auf dem Hintergrund des Unvermeidbaren erhebt sich die Frage nach der Mög- lichkeit des eigentlich menschlichen, das mit jener Natürlichkeit nicht identisch ist, die es nirgends mehr gibt. Erst von hier aus erscheint das Menschliche in der für Fontane charakteristischen Form. Diese Form heißt Resignation. Die Konflikte werden in ihr nicht gelöst, sie bleiben bestehen. Aber weil sie zuletzt unvermeidbar gedacht werden, beruht das Menschliche dieser Resignation wesentlich darin, sich ins Unver­meidliche zu schicken, wie es Lene Nimptsch tut. [...] Verzicht auf all e utopischen Rezepte [...]. Die Konflikte sind [...] die Voraussetzung für e d i