Heft 
(1993) 55
Seite
98
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große Weltbewegung mit und sprudelt und wirft Strahlen und bildet Trichter. Um dies - so ungefähr fangt der Roman an - und um das Thema dreht sich die ganze Geschichte. (IV,650)

Um dieses Thema dreht sich nicht nur der Stechlin, sondern sozusagen alles in Fontanes Roman - oder doch beinah, wie er selbst hinzugefügt hätte.

3.

Amüsant wird der Fluchtinstinkt, der allem Liebäugeln mit dem Exotischen zugrundeliegt, das selbst die bodenständigsten Gestalten Fontanes charakteri­siert, in einem Gespräch in Frau Jenny Treibel beschrieben. Corinna Schmidt (schon der Name weist auf die Spannung von Fern und Allzunah) erklärt dem nach dem gleichen Prinzip benannten Marcel Wedderkopp, von dem sie nur eine eher bescheidene Partie erwarten kann, warum sie lieber an Leopold Trei­bels Hand durchs Leben gehen möchte. Dazu gibt sie die allabendliche Unter­haltung mit der Haushälterin wieder:

'Aber, Corinnchen, ich habe ja noch gar nicht mal gefragt, was wir morgen essen wollen...? Die Teltower sind jetzt so schlecht und eigentlich alle schon madig, und ich möchte dir vorschlagen, Wellfleisch und Wruken, das Schmolke auch immer so gern' - ja, Marcell, in solchem Augenblicke wird mir immer ganz sonderbar zumut, und Leopold Treibel erscheint mir dann mit einem Mal als der Rettungsanker meines Lebens oder, wenn du willst, wie das aufzusetzende große Marssegel, das bestimmt ist, mich bei gutem Wind an ferne, glückliche Küsten zu führen."

Marcell fügt schlagfertig hinzu:Oder wenn es stürmt, dein Lebensglück zum Scheitern zu bringen" (VI,320). Damit sind die Koordinaten der (hier natürlich nur metaphorischen) Flucht anferne Küsten" unverrückbar gegeben: Sehn­sucht und Enttäuschung.Warten wir's ab, Marcell." Doch hinterrücks hat der Romancier die Karten längst gemischt: Enttäuschung ist Trumpf, Glück ein exotischesMärchen".

Im Hinblick auf reale ferne Küsten läßt Fontane Botho von Rienäcker in Irrun­gen, Wirrungen diese Ausweglosigkeit einer Flucht aus der Gesellschaft formu­lieren. Sein Kollege Rexin möchte eine unstandesgemäße Liaison sanktionieren, entweder in Preußen oder in Übersee, im Wilden Westen.Das eine ist gerade so schlimm wie das andre", warnt ihn Botho, der in einer ähnlichen Situation ist. Brechen Sie von Grund aus mit Stand und Herkommen und Sitte, so werden Sie, wenn Sie nicht versumpfen, über kurz oder lang sich selbst ein Greuel und eine Last sein, verläuft es aber anders und schließen Sie, wie's die Regel ist, nach Jahr und Tag Ihren Frieden mit Gesellschaft und Familie, dann ist der Jammer da, dann muß gelöst werden, was durch glückliche Stunden und ach, was mehr bedeutet, durch unglückli­che, durch Not und Ängste verwebt und verwachsen ist. Und das tut weh" (V,157- 158). Wenn Rexin selbst sein Dilemma in Worte faßt, wird klar, daß die Flucht ins Exotische keine Lösung ist für den preußischen Offizier. Das Exotische als Existenzform bleibt außergesellschaftliche, unrealistische Utopie oder Leder­strumpf-Romantik: