Peter Goldammer, Weimar
Zwischen „Goethebann" und „Goethegötzenkultus" Anmerkungen zu Fontanes Verhältnis zur Weimarer Klassik
Fontane war sechsundsiebzig Jahre alt, als er zum ersten (und einzigen) Male offiziell nach Weimar eingeladen wurde. Anlaß war die feierliche Einweihung des neuen Gebäudes für das Goethe- und Schiller-Archiv am 24. Juni 1896. Er hat die Einladung nicht angenommen, wegen einer ihn „den ganzen Juni über in Carlsbad festhaltenden Kur", wie er am 25. Mai an Bernhard Suphan, den Archivdirektor, schrieb. Aus einem an Erich Schmidt, den Berliner Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur und einstigen ersten Direktor des Goethe- Archivs in Weimar, gerichteten Brief vom gleichen Tage geht hervor, daß er auch ohne die bevorstehende Karlsbader Kur versucht hätte, „weit vom Schuß” zu bleiben. „Ich kann mich da nicht mit einem Male gut einreihen", heißt es in dem zuletzt erwähnten Brief. „Abgesehen davon, daß einige in den Verwunderungsruf: ‘Gott, nun auch hier noch' ausbrechen würden, passe ich wirklich in die Sache nicht recht hinein, weil ich der da zu spielenden Rolle nicht gewachsen bin. ... Denn trotzdem ich meinen Lewes und sogar meinen Herman Grimm gelesen habe, habe ich doch von Goethewissenschaftlichkeit keinen Schimmer ..." Und fünf Tage vor der Weimarer Feierlichkeit schrieb er aus Karlsbad an Paul Heyse, er habe „den Muth zur Annahme [der Einladung] nicht aufbringen können," trotzdem er „dergleichen gern einmal gesehen hätte, freilich am liebsten aus der Gondel eines Fesselballons". Das Bild ist nicht nur charakteristisch für Fontanes ironische Redeweise, es bezeichnet auch genau seine Distanz zum offiziellen Goethe-Kult, wie er besonders von Herman Grimm gepflegt und zelebriert wurde, dem Sohn Wilhelm Grimms und Schwiegersohn Achim und Bettine von Arnims, dem Verfasser jenes Goethe-Buches, das „sogar" gelesen zu haben Fontane gegenüber Erich Schmidt erwähnt. Grimms Buch, hervorgegangen aus öffentlichen Vorlesungen, die er erstmals 1874/75 an der Berliner Universität gehalten hatte, war 1894 in fünfter Auflage erschienen. Grimm spricht, gleich zu Anfang, von dem "Jahrhundert, das Goethes Namen trägt", womit er nicht etwa des Dichters Lebens- und Schaffenszeit meint, sondern das Säkulum, das mit „Goethes Eintritte in Weimar" begann und sich seinem Ende zuneigte, als Herman Grimm seine Vorlesungen zum ersten Male hielt. Goethe habe, so war bei Grimm zu lesen, „unsere Sprache und Literatur geschaffen"; und „die Verehrung für Goethe" sei „in der Zeit der politischen Zerrissenheit und dumpfen Schweigens im öffentlichen Leben" eines der „wenigen vaterländisch-gemeinsamen Gefühle" gewesen, welche „offen bekannt werden durften ; hier liege „Goethes politische Wirkung höchster Art". Mit solchen und ähnlichen Sätzen, gesprochen im dritten Jahr nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs, sollte diesem eine geistige Tradition zugeschrieben werden, die seine Entstehung aus „Eisen und Blut" vergessen lassen konnte. Der Goethe-Kult des letzten Jahrhundertviertels stand im Zeichen und im Dienst der deutschen Gro
macht-Politik.