Ein Goethe als „leuchtender Punkt ... in trüben Tagen" entsprach weder den ästhetischen Maximen noch den persönlichen Erfahrungen Theodor Fontanes. Er, der noch im hohen Alter bekannte, er sei glücklich, „mit Freiligrath begonnen zu haben", hatte in seiner Jugend zu den „Freiligrathenthusiasten" gehört, denen gegenüber sich jeder „einfach lächerlich gemacht" haben würde, der damals von der „ewigen Schönheit Goethescher Lyrik" gesprochen hätte. Kein Wunder also, daß ihm später, als er längst ein Organ für die Größe und Schönheit Goethescher Dichtung entwickelt hatte, der Goethe-Kult suspekt und verächtlich war, daß er ihm als „Goethegötzenkultus" erschien und daß er seine politischen Implikationen durchschaute. Wiederholt hat Fontane, mit leisem, aber unverkennbarem ironischem Anflug Goethe als den „Heros deutscher Nation" apostrophiert (wobei es ziemlich belanglos ist, ob die Verwendung von Anführungszeichen auf ein Zitat deutet oder nicht). Am deutlichsten tritt Fontanes spöttische Verachtung jenes politisch intendierten und gesteuerten Kultes in jener vielzitierten Briefstelle vom Februar 1896 zutage, wo von Leuten die Rede ist „die gleich stramm stehn und den Zeigefinger an die Biese legen, wenn der Name Goethe bloß genannt wird". Die Bemerkung umschreibt zugleich den eigentlichen Grund dafür, daß Fontane drei Monate später die Einladung zur Eröffnung des neuen Goethe- und Schiller-Archivs ausgeschlagen hat.
Fontane hat wahrscheinlich nur einen einzigen Tag seines langen Lebens in Weimar verbracht: den 25. August 1867, einen Sonntag. Zusammen mit seiner Frau Emilie und Berliner Freunden war er am Vorabend „gegen 9”, von Arnstadt kommend, im „Russischen Hof" abgestiegen. Am 26. August, um 8 Uhr morgens, erfolgte die „Abfahrt nach Erfurt". Den Ablauf des Sonntags in Weimar sowie die besichtigten Denkmäler und Sehenswürdigkeiten hat er genau in seinem Tagebuch vermerkt: vom Besuch der Fürstengruft bis zum Kaffeetrinken „am Schloß in der Conditorei auf einer reizenden Veranda". Auch daß er das Goethe-Haus nur „von außen " gesehen hat - es war die Zeit, da die Enkel des Dichters ein nahezu generelles Besuchsverbot durchgesetzt hatten -, ist dort zu lesen. Literarisch oder publizistisch verwertet aber hat Fontane diese Notizen nicht. Als er sechs Jahre später einen siebenwöchigen Urlaub in „Groß-Tabarz verbrachte und von dort aus mehrere Reisen durch Thüringen unternahm, scheint er Weimar nicht noch einmal besucht zu haben, obgleich sich wiederum detaillierte Beschreibungen der dortigen Sehenswürdigkeiten im Tagebuch finden, die sich allerdings in der Hauptsache als Exzerpte aus einem Baedeker- schen „Handbuch für Reisende" erwiesen haben. Sie dienten der Vorbereitung eines auf vier Bände berechneten Werkes über „Örtlichkeiten deutscher Sage und Geschichte", dessen erster Band Thüringen und Sachsen behandeln sollte (mit eigenen Kapiteln über „Goetheplätze" und „Schiller-Plätze"). Der Plan wurde nicht verwirklicht.
Was auf den ersten Blick seltsam, ja befremdlich erscheinen könnte: daß Fontane keinerlei persönliche Beziehungen zu den Klassikerstätten in Weimar zu erkennen gibt - nur im Rückblick ist, nach dreiundzwanzig Jahren, von der „entzückenden Tagesfahrt nach Weimar" die Rede - , das erscheint im Lichte der hier vorangestellten Erörterungen als eine Art Scheu vor der Preisgabe von Emotionen. Unter keinen Umständen mochte er sich in die Nähe jener begeben, die durch Bekundung ihres Goethe-Enthusiasmus, absichtlich oder unbewußt,
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