Heft 
(1993) 55
Seite
131
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Droemer/Knaur erschienenes, in hellgraues Leinen gebundenes Buch, 1136 Dünndruckseiten dick:

THEODOR FONTANE, Romane und Gedichte

Knaurs Klassiker. Goldenes F auf dem Deckel. Pflichtlektüre bei der Liegekur? Bildungslücke schließen? Beim Verlagsvertreter zu viele Exemplare bestellt - wenigstens noch eines vor der Inventur verschenkt? Es reizte mich nicht beson­ders, lag aber so angenehm in der Hand, öffnete sich, wo das Lesebändchen heraushing. Querlesender Buchhändlerblick auf die rechte Seite:

IRRUNGEN WIRRUNGEN

An dem Schnittpunkt von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber demZoologischen" (Spielt ja in Berlin!), befand sich... Gärtnerei... Hundegeblaff... Pfingsten... stand die Sonne schon hinter dem Wilmersdorfer Kirchturm ...

In diesem Augenblick machte Fontane an meinem Bett Visite.

In Wilmersdorf bin ich aufgewachsen, habe fast 20 Jahre dort gelebt. Vom Kudamm hielt man nichts, aber im Zoo hatte schon meine Mutter als kleines Mädchen auf dem Leseberg gesessen, und ich kannte noch die jetzt zerstörte, in meiner Kinderzeit außen prachtvolle, innen düstere Elefantenpagode. Und der Wilmersdorfer Kirchturm! Konnte man ihn denn von der Zoogegend aus sehen?

Fontane vielleicht - denn auch meine Mutter war als Kind noch durch Kornfel­der und Wiesen längs der Kaiserstraße nach Wilmersdorf spaziert, hatte in Schramms See-Bad zu Füßen der Kirche gebadet. Ihr Vater, seit 1883 als Quar­taner im Joachimstalschen Gymnasium, hörte in der Schlafpension, Fasanen­straße 11, nachts die Löwen im Zoo brüllen und fuhr im Winter auf den über­frorenen Hopfenniederungen gen Wilmersdorf Schlittschuh. Also konnte der Blick hinüber wohl für Lene und Botho frei gewesen sein.

Mußte mir nicht zugleich mit Bothos maßgeblichem Onkel Kurt Anton von Osten (Respektsperson, Bismarckkopf) mein eigener Großonkel Kurt (Oberst, Familienverbands-Chef, vormals Sejmabgeordneter in Warschau) zwischen Fontanes Zeilen hervortreten? Augenblicklich.

In dritter Generation bin ich als Steppke ungezählte Male über den längst zugeschütteten Schramm-See (an den gelb gestrichenen Juden-Bänken vorbei) in Richtung des Wilmersdorfer Kirchturms ins benachbarte Schoeler- Schlößchen gegangen, um aus der Volksbibliothek neues Lesefutter zu holen. Allerdings wars nicht mehr der fontanische Kirchturm von 1875. Der stand nur noch bis 1897. Da wurde die alte Kirche abgerissen und vom heutigen doppelt so hohen wilhelminischen Neubau ersetzt.

Familiengeschichte, Lokalgeschichte, Fontanegeschichte ... Kein Wunder, daß IRRUNGEN WIRRUNGEN als Weihnachtsgeschichte ein Teil meiner Lebensge­schichte geworden ist.