Heft 
(1994) 57
Seite
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So überzeugend und glaubwürdig Effis Gefühle, ihr Zorn und ihre Ver- letztheit auch sein mögen, es bleibt völlig offen, wie berechtigt ihre kon­kreten Vorwürfe gegen Innstetten sind. Denn woher weiß Effi so genau, wie und von wem Annie für den Besuch bei der Mutter instruiert worden ist? Der Erzähler verrät es aus guten Gründen nicht. Der Leser allerdings sollte sich, um diese Leerstelle zu füllen, an eine frühere Episode des Romans erinnern. Nach der Rückkehr von dem Duell mit Crampas hatte Innstetten seinem treu ergebenen Dienstmädchen Johanna mitgeteilt:

"... Und dann, Johanna, noch eins: die Frau kommt nicht wieder. Sie werden von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf nichts wissen, wenigstens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie müssen es ihr allmählich beibringen, daß sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht (Hervorh. von mir). Aber machen Sies gescheit. Und daß Roswitha nicht alles verdirbt." 5 ')

Demnach spricht vieles dafür, daß Innstetten drei Jahre später eine ähnlich heikle Aufgabe, nämlich Annie für die Begegnung mit der Mutter vorzube­reiten, wiederum Johanna überträgt. Dann aber wäre Johanna die 'Übeltä­terin' 6 ) und Effis Vorwurf gegen ihren geschiedenen Mann, das Kind "wie einen Papagei" abgerichtet zu haben, hinfällig - eine nicht ganz unwesentli­che Nuance beziehungsweise ein Punkt weniger in der Anklageschrift gegen Innstetten. Doch selbst wenn der Vater seine Tochter persönlich instruiert haben sollte, bleibt rätselhaft, wie es ihm gelingt sicherzustellen, daß Annie zu Effis und des Lesers Entsetzen die schaurig komische Phrase "O gewiß, wenn ich darfu " garantiert dreimal von sich gibt, und zwar gena dann, wenn es in dem Dialog gerade fatal richtig paßt. Da müßte Innstet­ten ja über die geradezu hellseherische Fähigkeit verfügen, den Auftritt, die Fragen und Vorschläge seiner ehemaligen Frau vorauszuahnen. Doch ein solches Maß an Unwahrscheinlichkeit hinzunehmen hat der große rea­listische Autor seinen Lesern keineswegs zugemutet. Denn der Text selbst gibt lediglich Auskunft darüber, wie die empörte und zornige Effi sich eine Lehrstunde zwischen Innstetten und Annie vorstellt. Er sagt nichts darüber aus, ob eine solche stattgefunden hat und - wenn ja - wie sie abge­laufen ist. Was der Text hingegen provoziert, ist die Frage, warum Effi sich das Verhalten ihrer Tochter nur als Resultat einer extremen Dressur erklären kann.

Zweifelsohne hat Innstetten Annies Besuch bei der Mutter nur zögernd und widerwillig erlaubt. Höchstwahrscheinlich hat er sich, wie Effi glaubt, zu dieser Entscheidung nur durchgerungen, um der Ministerin gefällig zu sein. Er mag auch seine Tochter ineiner Art Abwehr" 7 ) gegen die Mutter erzogen haben 8 ), und zwar vermutlich dergestalt, daß er Effi niemals mehr erwähnt hat. Ein solch konsequentes, eisernes Schweigen würde seinem Charakter entsprechen. Auch das aber widerspräche der Annahme, daß Innstetten selbst seine Tochter in der Weise präpariert hat, wie es sich Effi denkt. Mehr noch: Eine Vorbereitung oder gar Abrichtung des Kindes hat vermutlich überhaupt nicht stattgefunden. Warum? Weil dies vollkommen überflüssig war. Betrachtet man nämlich das mißglückte Wiedersehen und

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