seine Vorgeschichte, wie es Fontanes mehrperspektivisches Erzählen immer nahelegt 9 ), nicht nur aus der Sicht der einen Figur, sondern auch der anderen, hier also aus der Perspektive der zehnjährigen Annie von Innstet- ten, dann ist es ein leichtes, das die Mutter so empörende Verhalten des Mädchens nachzuvollziehen und als mitnichten ferngesteuert zu begreifen. Annie ist kein seelenloser Roboter, keine bloße Marionette, als die sie noch in jeder Verfilmung des Romans auftreten mußte. Ihr "Vorbedacht", ihre "scheu(e)" uind "verlegen(e)" Gestik 10 ), ihre unterschwellige Aggression - all dies zeugt nicht von Unnatur, sondern davon, daß sich ein verletztes und verstörtes Kind nicht anders zu helfen weiß und sich am Ende in die monotone Phrase flüchtet, die ihr niemand für diesen Besuch eingetrichtert haben muß.
Das Ausmaß dieser Verletzung soll im folgenden rekonstruiert werden. Dadurch dürfte die gesamte, eindrucksvoll gestaltete Szene zwischen Mutter und Tochter in einem neuen Licht erscheinen. Rekapitulieren wir den 'Fall' Annie von Innstetten: Drei Jahre lang hatte es keinerlei Kontakt zwischen Effi und Annie gegeben; nur wenige Tage vor dem Besuch hatten sich beide flüchtig und von weitem in der Pferdebahn gesehen. Nach der Scheidung der Eltern wird das intelligente Mädchen die ein oder andere Bemerkung über Effis 'Fehltritt' aufgeschnappt haben. Denn Kinder in dem Alter hören mit Vorliebe das, was nicht für ihre Ohren bestimmt ist. Überdies kann man sich nur zu gut vorstellen, wie die "in den gnäd'gen Herrn verliebt(e)" n ) Johanna ihre Aufgabe gelöst hat, Annie beizubringen, "daß sie keine Mutter mehr hat" (s.o.). Unter diesen Umständen blieb dem Mädchen psychologisch kaum eine andere Wahl, als sich mit dem Vater zu identifi¬öp zieren und die Schuld an der Zerstörung der Familie Effi zu geben. Annies unausgesprochene Gefühle dürften denen der gleichaltrigen Lydia van der Straaten in L'Adultera ähneln. Auch in diesem Roman gibt es ein mißglücktes Wiedersehen mit der geschiedenen Mutter, bei dem das Kind die Mutter sogar ganz offen verurteilt. 12 )
Zwar ist Melanie van der Straaten im Gegensatz zu Effi freiwillig fortgegangen, aber aus der kindlichen Perspektive macht das - wenn überhaupt - höchstens insoweit einen Unterschied, als sich in dem einen Fall die Wut unmittelbar, in dem anderen Fall nur larviert äußern kann. Bei Annie kommt nun erschwerend und - wie ich meine - entscheidend hinzu, daß sie sich in doppelter Weise verlassen und verraten fühlen mußte. Im Alter von sieben Jahren verlor sie nämlich nicht nur die leibliche Mutter, sondern auch die Frau, die das Kind von klein auf betraut hatte - das Dienstmädchen Roswitha. Deren Entschluß, bei der von ihrem Mann verstoßenen Effi zu leben, hat eine Kehrseite, die meines Wissens noch niemand richtig gewürdigt hat. Keiner der zahllosen Effi Briest-Interpreten hat sich die Fe rage gestellt, was es für Annie bedeutet, wenn sie von Roswitha, die, wi noch zu zeigen sein wird, nicht nur "fast" (s.u.) wie eine Mutter für sie war, zugunsten Effis aufgegeben wird. Effi selbst kommentiert den Sachverhalt auffallend kühl: “Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch hängst, sie is t ja fast (Hervorh. von mir) wie dein eigen Kind, - aber trotzdem, für Annie wird sn chon gesorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also davo