die Wunde, das Aufbrechen von Effis Nähkasten, die Entdeckung der kompromittierenden Crampas-Briefe durch Innstetten, das Duell und Effis Verstoßung. Was wiederum aus Annies Perspektive bedeutet, daß die Mutter aus der Kur in Bad Ems nicht mehr zurückgekehrt ist. Das Willkommensgedicht 17 ) wurde umsonst auswendig gelernt. Wieviel Annie selbst von den Zusammenhängen ahnt - wahrscheinlich eine ganze Menge - bleibt offen. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß sie sich in gewisser Weise schuldig fühlt: Hätte sie nicht so wild gespielt, wäre alles ganz anders gekommen... Auf jeden Fall weiß sie, von welchem Tag an sich auch ihr Leben zum Schlechten hin verändert hat. Von der Aussicht, "auch so" zu sein oder zu werden wie die Mama, kann sie da kaum begeistert sein.
Trotz alledem läßt sich Annie, wenn auch zögernd, weiterhin auf das Gespräch mit der Mutter ein. Diesen 'Dialog', der der oben ausführlich zitierten Passage unmittelbar folgt, hat Helene Herrmann, eine der ersten und besten Interpretinnen des Romans in einem Aufsatz aus dem Jahr 1912 so einfühlsam wie niemand nach ihr kommentiert: "Wie hier alles zwischen den Worten zittert: die werbende Angst der Mutter, die in des Kindes Herz sich mit den hastig hervorgestoße- nen Fragen hineindrängen möchte, (Hervorh. von mir), das leise Zurückziehen in den Antworten des Kindes und dazwischen ein Aufzucken des unbefangenen kindlichen Interesses an den Fragen nach Schule und Hund." 18 ) Um weiter zu verdeutlichen, daß auch Effi selbst als verantwortlich für das Scheitern der Begegnung anzusehen ist, braucht man nur die Frage nach einem alternativen Handlungsablauf zu stellen. Warum legt Effi nicht die dringend notwendige Gesprächspause ein? Warum ist sie nicht imstande, die für beide peinliche Situation dadurch zu entspannen, daß sie der Tochter Kakao und Kuchen anbietet? Auch auf die Gefahr hin, daß Annie vielleicht mit der Begründung ablehnt, sie dürfe Johanna nicht länger vor dem Haus warten lassen. Statt dessen bestürmt Effi ihre Tochter mit Vorschlägen für ein baldiges Wiedersehen, für gemeinsame Spaziergänge und Eisessen in der Konditorei: "Ananas- oder Vanilleeis, das aß ich (Hervorh. von mir) immer am liebsten." 19 ) Und erst auf diese erneut höchst ungeschickten, überdies selbstbefangenen Vorschläge, die zugleich zeitliche Verschiebung, also Vermeidung einer wirklichen Zuwendung bedeuten, reagiert das 'schreckliche Kind', das möglicherweise lieber Schokoladeneis ißt, mit dem monotonen, fast schon zum geflügelten Wort gewordenen "O gewiß wenn ich darf". Erst jetzt wird Annies Ablehnung der Mutter manifest und irreversibel, während in dem voran- gegangenen Dialog ihre Gefühle eher ambivalent, im Sinne von unsicher, aber doch auch offen, zu sein scheinen. Der Besuch endet abrupt - im Grunde handelt es sich um einen Rausschmiß -, und Effi bricht zusammen.
Wie erklärt es sich nun, daß Effi, der schon auf den ersten Seiten des Romans " Herzensgüte" und "natürliche Klugheit" attestiert werden 20 ), ihrer Tochter gegenüber so wenig Sensibilität zeigt? Will man diese Frage beantworten, so empfiehlt es sich, dem ’psychographischen' Potential des
Romang s2 1) vertrauend, Effis Beziehung zu Annie vor der Trennun etwas näher zu analysieren. Dabei geht es nur um die Merkmale dieser
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