Heft 
(1994) 57
Seite
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Beziehung, nicht um ein Urteil darüber, ob Effi, gemessen an dem Stan­dard ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Schicht, eine gute oder schlech­te Mutter war. Die relativ spärlichen Hinweise, die der Text insgesamt bie­tet, sprechen dagegen, daß jemals ein innigeres Verhältnis bestanden hat. 22 ) In völliger Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten des Adels und des Großbürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts überläßt die bei der Geburt der Tochter erst siebzehnjährige Effi die Pflege und Betreuung des Babys der dafür eigens engagierten Roswitha. Das wäre nicht weiter erwähnens­wert, wenn man nicht im Hause Innstetten zu einem bestimmten Zeit­punkt erwogen hätte, von der Regel der Aufzucht der Kinder durch Dienstboten abzuweichen. Das "neue Leben" in Berlin 23 ) sollte sich ursprünglich auch dadurch auszeichnen, daß Effi nunmehr - Annie ist jetzt ein Jahr alt - mütterliche Pflichten übernimmt. Vermutlich ein Wunsch Inn- stettens, resultierend aus der gar nicht abwegigen Vorstellung, daß der rei­fer gewordenen Effi eine konkrete Aufgabe ganz gut anstünde. Doch dar­aus wird nichts. Es heißt nämlich: "Annies Abwartung und Pflege fiel Effi sel­ber zu, worüber Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen ." 24 > Unter Roswithas Obhut, in ihrem Zimmer, nicht in dem der Mutter, schläft Annie bei den Besuchen in Hohen-Cremmen. 25 ) Bei der Ankunft in Berlin ist Roswitha, nicht Effi, "entzückt (...) über Annie, die die Händchen nach den Lichtern ausstreckte". 26 ) Auch als die Tochter heranwächst, scheint die leibli­che Mutter keine nennenswerte Rolle zu spielen. Denn der Leser erfährt, daß sich die beiden Dienstmädchenin die Behandlung und fast auch Erzie­hung Annies geteilt hatte(n)", wobei Roswitha "das poetische Departement, die Märchen- und Geschichtenerzählung" zufiel. 27 ) Damit beeinflußt sie die emo­tionale Entwicklung des Kindes stark. 28 ) Mithin: Es bedarf nicht der Weis­heit König Salomos, um zu entscheiden, wer hier die wahre Mutter ist.

Wie wenig mütterliche Gefühle, nach Ansicht der Ministerin die "schönsten unserer Gefühle" 29 ), Effi selbst aufbringt, zeigt eine Episode, die sich auf Annies mögliche Zukunft bezieht und die Fontane, der ansonsten die Berli­ner Jahre vor der Katastrophe sehr gerafft darstellt, relativ breit ausgemalt hat. Der alte Briest räsoniert über den Fall, daß die Ehe der Innstettens ohne männliche Nachkommen bleiben sollte:

Ja, Innstetten, wenn das so weiter geht, so wird Annie seiner Zeit wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich einen christlichen, wenn's deren dann noch gibt) und mit Rücksicht auf das alte freiherrliche Geschlecht der Inn­stetten wird dann Seine Majestät Annies Haute finance-Kinder unter dem Namen 'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender, oder was weniger wichtig ist, in der preußischen Geschichte fortleben lassen" - Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von Effi dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz sie war, so war sie's doch nur für ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener und vor allem sehr, sehr reicher Ban­kierschwiegersohn wäre durchaus nicht gegen ihre Wünsche gewesen. 30 )

Sieht man einmal von dem ach so harmlosen - in Figurenperspektive ver-

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