Heft 
(1994) 57
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Seelenleben des Kindes auf einen Roman vom Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Roman, der immerhin im selben Jahr - 1895 - erschien wie Sigmund Freuds Studien über Hysterie. Wahrscheinlich hätte Fontane mit den Theori­en des damals noch ganz unbekannten Wiener Arztes, wenn sie ihm zu Gesicht gekommen wären, wenig anfangen können. Vielleicht hätte Fonta­ne einem Kind eine so differenzierte Psyche, wie sie in diesem Versuch einer Dekonstruktion im Hinblick auf Annie von Innstetten skizziert wurde, normalerweise gar nicht zugetraut. Das besagt aber nicht, daß die Tiefenstruktur seines Romans, den er ja "fast wie mit einem Psychographen geschrieben"s 3 6 ) haben will, nicht doch ein differenziertes Porträt des Kinde enthält. Möglicherweise unbewußt und gegen seine Intention, zu der ja ein beträchtliches Maß Effi-Verliebtheit gehört, hat Fontane das mißglückte Wiedersehen zwischen Mutter und Tochter so gestaltet, daß es in einer jeweils anderen Beleuchtung erscheint, je nachdem, ob man Effis oder Annies Perspektive wählt.

Warum es Lesern und Interpreten offenbar recht schwer fällt, sich nicht vollständig mit Effi zu identifizieren, ist leicht zu erklären. Im gesamten Roman dominiert die Sichtweise der ungemein sympathisch gestalteten Hauptfigur insofern, als es fast ausschließlich ihre Gedanken und Gefühle sind, viel weniger die anderer Figuren, über die man informiert wird. 37 ) Und selbst die Autoren, die dem vorherrschend negativen Innstet- ten-Bild positivere Züge abgewinnen, 38 ) haben Effis Vorwürfe gegen ihren geschiedenen Mann nicht angezweifelt. Die Versuchung, Effis Aussagen für bare Münze zu nehmen, ist auch deswegen so groß, weil die Anklage­rede in einer Form des strikt personalen Erzählverhaltens dargeboten wird, der Erzähler also hinter der von ihm gewählten Optik der Figur ver­schwindet, nichts kommentiert und nichts zurechtrückt. Überdies wendet sich die Anklage auch noch an eine höchste Instanz, "Bibel und Gesangbuch" 39 ) dienen als Requisiten. Doch selbst eine solch extreme textu- elle Präsentation ermöglicht dem Leser noch Distanznahme für kritisches Nachfragen, auch gegen den Strich der mutmaßlichen Autorintention. 40 ) Im konkreten Fall bedeutet dies: Annies Vorbereitung auf den Besuch kann einerseits nicht so abgelaufen sein, wie es Effis Vor- und Darstellung will, andererseits aber ist Effi gezwungen anzunehmen, Annie seiwie ein Papa­gei" abgerichtet worden, weil jede andere Erklärung ihr Selbstbild zer­stören würde. Dies aufzudecken war e i n Ziel der hier erprobten Dekon­struktion einer Schlüsselszene des Romans, der zu Recht der Weltliteratur angehört.

Anmerkungen

1) In einem Brief an Clara Kühnast vom 27. Oktober 1895 äußert sich Fontane zur Rezeption seines Romans: "]a, Effi! Alle Leute sympathisiren mit ihr und Einige gehen so weit, im Gegensätze dazu den Mann als einen 'alten Ekel' zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, giebt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten 'Moral' liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. Ich habe dies lange gewußt, aber es

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