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Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
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Ich erhielt von einem seiner früheren Hörer ein paar Blät­ter einer ziemlich worttreuen Nachschrift einiger seiner Vor­lesungen. Es sind uns heute ferner liegende Gegenstände, von denen sie handeln: die frühgriechischen Philosophen, Heraklit, Parmenides, Zenon. Man erhält keine irgend vollständige Über­sicht oder kritische Untersuchung der Quellen; kein Versuch wird gemacht, die historischen Zusammenhänge auch nur in großen Zügen wiederaufzubauen. Es werden nur wenige, zunächst viel­leicht grade nur ein besonders bezeichnender Ausspruch heraus­gegriffen, an ihm die hervorstechende Eigenart des Denkers, der ihn getan hat, fühlbar gemacht und von da aus dann noch einiges weitere, das von ihm überliefert ist, beleuchtet; ohne Anspruch, aus den Bruchstücken ein Ganzes herzustellen; nach keinem solchen Ganzen, keinem System ist überhaupt die Frage, sondern nach den wurzelhaften Motiven, aus denen der Fortgang der philo­sophischen Gedankenarbeit verständlich wird. Das ist gewiß kein objektives" Verfahren, man bekommt vom überlieferten Tat­bestand so nur einen scheinbar willkürlichen Ausschnitt zu sehen, und über die Deutung ließe sich mitunter streiten. Aber er packt das Tiefste, das weltgeschichtlich Entscheidende, und das in einer Lebendigkeit der Hineinversetzung, die den Hörer nicht bloß zum Verstehen, sondern zum Mitgehen, zum Mit erleben zwingt. Er nimmt den einzelnen Philosophen der Vorzeit vor, als hätte er ihn zur Stelle, zieht ihn sozusagen persönlich zur Rechenschaft: Was hast du dir dabei gedacht, wie bist du darauf gekommen, wie willst du es rechtfertigen, wenn man dir das und das entgegnet? So wird der Hörer unvermerkt mithineingezwungen in das innerste Arbeiten des philosophischen Gedankens, er muß mit­gehen, muß die Gedanken in sich mitherausarbeiten, so wie sie in den großen Forschern sich herausgearbeitet hatten. Ich habe irgendwo gesagt: Nicht uns in den Geist der Zeiten, sondern den r! Geist der Zeiten in uns zu versetzen, sei die Aufgabe der Geschichte. N Cohens Weise der Geschichtsbehandlung gibt davon das lebendigste Beispiel, das ich kenne. In lebhafter Erinnerung ist mir die letzte Vorlesung, die er vor seiner Übersiedelung nach Berlin