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Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
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so würde weniger gegenseitiges Unverständnis und Streit und gar Religionshaß bestehen.

Wenn ich nun sage, daß dies der herrschende Zug im ganzen Charakter dieses Mannes war: dies unmittelbare Zurückgehn in die letzten, ewigsten Tiefen der Sache, die zugleich die letzten, ewigsten Tiefen des Persönlichen im Menschen sein müssen, so mag das leicht als überschwängliche Erhebung er­scheinen. Doch bleibt für menschliche Schwäche gerade in einem solchen Menschen übergenug Raum, denn in der Mitte zwischen dem letzten Innerlichen und dem Aeußeren des Treibens und Gehabens liegen zahllose Zwischenstufen, die sich doch nicht über­springen lassen und auf denen gerade der, der rücksichtslos immer auf das Letzte, Radikale drängt, im einzelnen tausendfach fehl­gehen wird. Solches Fehlgehen ist schlechterdings unvermeidlich auch für den stärksten Intellekt und Willen, eben wenn nicht In­tellekt und Willen, die stets nur von Stufe zu Stufe sich fort­arbeiten können, sondern jenes letzte Radikale jenseits beider, das beiden erst den Grund legen will, im Menschen das Herr­schende ist, nenne man es das Religiöse, Metaphysische, Trans­zendentale, oder wie sonst. Ein solcher wird, ehe er bis zum Grunde kommt, ungezählte Rechenfehler begehen, eben weil zu­letzt nicht die Richtigkeit der Rechnung, das Rationale, sondern das letzte, mit keiner Rechnung zu erreichende, Irrationale es ist, worauf es ihm ankommt. Solcher Rechenfehler mag man, im Theoretischen, im Praktischen, im Ästhetischen, auch in der philo­sophischen Deutung des Religiösen, des Metaphysischen selbst, Cohen recht viele Nachweisen können. So durchdringend sein Verstand, so streng er, wo ihm daran lag, seine Gedankenlinie festhalten und durchführen konnte, zuletzt lag ihm das logische Zergliedern und Beweisführen nicht; so durchdringend war sein Denken, daß ihm alles eben am Durch dringen bis zum Letzten, Radikalen lag. Da geht es oft atemlos weiter, es ist gar keine Zeit zum Zurückblicken und Auseinanderlegen. So scheint es, daß nichts eigentlich erledigt, nichts gehörig gesichert wird, sondern es geht immer rastlos fort vom Problem zum nur tiefe-