Druckschrift 
Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
Entstehung
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ren Problem; man fühlt, man wird in immer größere Tiefen ge­führt, aber durch allzuviele verschwiegene Mittelglieder. So bleibt stets ein breiter Raum zu Fragen und Zweifeln, deren Lösung weder ausgesprochen vorliegt noch, ohne sehr ernste eigene Mit- und Nacharbeit, zu finden ist. Doch sieht man von dem er­reichten Punkte vor- wie rückwärts bisher verborgene Durchblicke sich öffnen, es fällt Licht auf Dinge, die einem behutsamer vor­schreitenden Denken nicht oder nur sehr langsam sich aufgetan hätten.

Besonders merkwürdig war mir immer Cohens Stellung zur Kunst. Er hat weder Griffel noch Pinsel geführt, meines Wissens nie einen Vers gemacht, auch über bescheidene Anfangsgründe hinaus nicht selber musiziert. Wie hätte er über das Zustande­kommen eines Werkes bildender Kunst, eines Dicht- oder Musik­werks, über die Gesetzmäßigkeit ihres Aufbaues sich zureichend Rechenschaft geben können? Also durfte er keine Ästhetik schrei­ben, würde mancher folgern. Doch hat er eine geschrieben. Und er durfte es, weil er gleichwohl in der Kunst lebte. Viele seiner ästhetischen Urteile sind gewiß anfechtbar, alle subjektiv, oft im äußersten Maße. Und doch treffen sie, wenigstens da wo er ganz zuhause ist, regelmäßig den Kern der Sache. Sie geben in jedem Fall Erlebtes, und man kann nun einmal nicht erleben, was nicht ist. Das Woher und Wie des Zustandekommens kümmert ihn im einzelnen garnicht. Doch hat er auch Scharfes und Tief­dringendes zu sagen vermocht über die Art wie allgemein das Künstlerische im Menschen sich erzeugt und mit allem, was sonst in ihm lebt, sich zusammenwebt. Wir haben oft freundschaftlich gestritten, weil er in der Unmittelbarkeit des Erlebens, imGe­fühl", wie es bei ihm heißt, ich im Gestalten den Kern des Ästhe­tischen sah. Letzten Grundes meinten wir dasselbe. SeinGe­fühl", unterschieden alsreines" Gefühl, meint kein andres als das im unmittelbaren Leben des Kunstwerks in der Seele sich rein gestaltet, das Erfühlen der Gestalt selbst; während um­gekehrt ich nicht das äußere Erstehen der Gestalt, sondern das Sichgestalten, das Sichzeichnen der Gestalt in der Seele im Auge