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Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
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der junge Goethe in seiner zugleich frömmsten und unfrömmsten Zeit. Solch restlose Erfüllung mit Gott gibt dem ganzen Wesen unendliche Erweiterung in der bloßen Idee und doch in gan­zer Fülle des Erlebens. Die Idee selbst wird darin Leben, Fülle des Lebens. Und damit Liebe.O laß doch immer hier und dort mich ewig Liebe fühlen, und möcht der Schmerz auch also fort durch Nerv und Adern wühlen", heißt es in dem­selben heißen Gebet Goethes. Nicht daß Liebe hier, im Verhält­nis zu Gott, erst entspringt; aber sie steigert sich zu der Liebe. Gott ist nicht bloß Liebe sondern die Liebe; sowie nicht bloß Sein, sondern das Sein; wie es die eigne Sprache der Religion allzeit sicher getroffen hat.

Cohen wäre der ganze Mensch nicht gewesen, als den ich ihn zu zeichnen versucht habe, wenn dieser letzte Grund innerer Ganzheit ihm gemangelt hätte. So entspricht es der ständigen Vertiefung des Einheits- und Ganzheitsstrebens in seinem Phi­losophieren, daß in seiner letzten Zeit die Frage derReligion ihn mit innigerem, heißerem Anteil als je zuvor, zugleich doch in strengster Zusammennahme seiner ganzen philosophischen Denkkraft beschäftigt hat. Noch haben wir sein letztes, schon fer­tiges Werk über die Religion des Judentums zu erwarten, das somit den Schlußstein seines Systems darstellen wird. Zwar fehlt noch eins, die Psychologie. Mit dieser letzten Aufgabe hat Cohen gerungen, ohne sie zu bezwingen; was darüber (in seinen Büchern oder handschriftlich) vorliegt, führt nicht bis zu dem Punkte, auf den die Konsequenz seines Systemaufbaues hin­weist. So bleibt hier eine letzte Frage unbeantwortet. Trotz dieser Lücke aber zeigt seine Philosophie als ganze eine ge­schlossene Einheit, wie sie nur höchst selten erreicht worden ist; eine Einheit nicht in äußerer Abschließung, aber in streng auf einen Punkt gesammelter Energie schöpferischer Methodik. Darin liegt das Geheimnis der schulbildenden Kraft dieser Phi­losophie, daß sie nirgends in bündigen Entscheidungen sich ver­härtet, sondern rastlos von Fragen zu nur tieferen Fragen führt. Cohen war, auch als Arbeiter, ein Kämpfer wie wenige. Die