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Sonderheft 1, Zeitbilder: Zwei Fragmente von Theodor Fontane "Sidonie von Borcke" und "Storch von Adebar"
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nische Sucht auf Persönlichkeiten! Ein ewiges Karikieren und Nörgeln an den Parteigeg­nern! Erzieht das ein Volk? Ungroßmütiger Mißbrauch der Presse und des Zeichenstiftes: ist das eine Schule des Edelmuts?. . . . Die methodische Erziehung des Volkes zum Ge­meinen, Unedlen, Pietätlosen liegt auf der Hand. Ist die beständige Karikierung der Prie­ster, Windthorsts und anderer Persönlichkeiten nicht eine wahre Gemeinheit? Und der fortwährende Triumph anderer Personen nicht die erbärmlichste Anleitung zur hündischen Schmeichelei und Gesinnungslosigkeit? Alle Sprungfedern der sittlichen Haltung eines Volkes sind bei uns losgelassen wie bei einem Divan, der repariert werden soll. Alles zittert ohne Halt in der Luft.«

[Über diesem Ausschnitt handschriftlicher Vermerk: »Zu Storch von Adebar oder Eleonore.«]

Ein englisches Urteil über deutschen Pessimismus Die »Edinburgh Review« bringt im Aprilheft einen Artikel über den modernen Pessimis­mus, dessen Schlußurteil, so traurig es für Deutschland ist, wohl beherzigt werden sollte. Der Verfasser geht davon aus, daß eine unbefangene Weltanschauung allerdings das Elend des menschlichen Lebens voll würdigen müsse und cs begreiflich sei, wenn manche Schrift­steller, wie Byron und seine Schule, diese Seite vornehmlich betonen. Indes das sei nur der Schrei eines persönlichen Gefühles, und selbst der Pessimismus Lcopardis ruhe nicht auf philosophischer Basis, diese hätten erst Schopenhauer und Hartmann herzustellen gesucht. Er gibt nun eine kurze Darstellung und Kritik beider und zeigt deren innere Widersprüche, wie bei Schopenhauer der erkenntnislose, blinde, grundlose Wille doch zweckmäßig wirken soll, wie bei Hartmann der unbewußte Wille und die unbewußte Vorstellung die Welt schaffen, die, worin beide übereinstimmen, schlechter ist als gar keine Welt.

Das Elend, sagt Schopenhauer, ist das Gesetz des Lebens, je höher das Wesen, desto mehr leidet es. Der Jammer steigert sich mit der Zivilisation, der Fortschritt der Intelligenz ist der Fortschritt des Leidens, die Welt wird immer schlechter, die Vergangenheit ist ein schwerer Traum, die Zukunft seine schmerzliche Wiederholung, das beste ist die voll­ständige Verneinung des Willens zum Leben. Noch energischer sucht Hartmann alles Elend und alle Enttäuschungen des Herzens in eine schwarze Masse zu vereinen, auf welche kein Lichtstrahl fällt. Er unterscheidet drei Stufen der Täuschung: i. daß der einzelne Mensch sich aus sich selbst entwickeln könne, z. den christlichen Glauben, der die Glückseligkeit in ein zukünftiges Leben lege und 3. die Humanitätsrcligion der industriellen und sozialen Entwickelung, ein Traum liebenswürdiger Enthusiasten. Selbst die instinktive Liebe zum Leben sei nur eine Illusion, mit der der Mensch sich selbst betrüge. Die Welt sei hoffnungs­los, selbst ihre materielle Lage bessere sich nur wenig, mit dem Fortschreiten der Intelli­genz mehre sich nur die Empfindlichkeit für das Leiden.

Über diese Philosophie urteilt nun der Verf. folgendermaßen: »Das widerwärtige Kauder­welsch dieser Klüglinge mag in die Worte zusammengefaßt werden »Fluche Gott und stirb«, das ist die satanische Botschaft, die sie der modernen Gesellschaft bringen wie einst die höhnenden Teufel an Hiob und Faust, und sie schrecken nicht vor der Konsequenz ihrer furchtbaren Lehren zurück, daß die Liebe zum Leben ein zu verdammender Aberglaube sei, daß, wer ein menschliches Wesen zur Welt bringt, nur ein neues Glied in der Kette des Leidens schmiedet, und das einzig Wünschenswerte die Vernichtung des menschlichen Geschlechtes sei. Bei Buddha sieht man doch tiefe Trauer, bei Schopenhauer nur üble Laune. Hartmann treibt sein Werk mit Leidenschaft. Er fand den Pessimismus in der Luft und wurde sein Prophet, er zog die fließenden Überbleibsel der alten Systeme hervor, kombinierte sie mit Schopenhauer und allgemeinen Sätzen neuerer Wissenschaft und goß das Ganze in eine philosophische Form. Seine Popularität ist nicht erstaunlich in dem Zer­fall des alten Glaubens und der herrschenden sozialen Zersetzung Deutschlands. Er ist voll von den Schlagworten der neuen Weisheit, die aus Unglauben und Aberglauben auf­gewachsen; er ist der Erbe aller unklaren Theorien und des materialistischen Hohnes, welche die Ergebnisse aller Weisheit und die Bescheidenheit aller Ehrfurcht bei Seite ge-

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