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Als sie hier ein wenig innehielt, fragte ich etwas vorlaut: „Hieß dieser Offizier nicht Kißfalludi?"
Sie blickte einen Augenblick finster auf mich, dann aber fragte sie in verwundertem Tone: „Woher weißt denn Du den Namen?"
„Mein Vater hat öfters von einem Kißfalludi gesprochen, der als Lieutenant von feiner Garnison in Rinteln nach Marburg versetzt worden. Er soll berühmt gewesen sein durch außerordentliche Schönheit und Liebenswürdigkeit, hochgeehrt und geachtet von allen, die ihn kannten, wegen seiner vielen Talente und seines trefflichen Charakters."
„Hat Dein Vater das wirklich gesagt? Nun, das freut mich noch in meinen alten Tagen, denn es war die Wahrheit, Franz, und wenn nicht unsre Hessen anno 1777 nach Amerika gemußt hätten, um gegen die rebellischen Amerikaner für die Engländer zu streiten, so wäre dieser Kißfalludi Dein Onkel geworden, mein Junge."
Hier schwieg sie eine Weile und sah trüb vor sich nieder; dann fuhr sie fort: „Dort ist er als tapferer Soldat gefallen, nun längst vergessen von allen, die vielleicht noch leben und ihn gekannt haben, und nur ich Hab' ihm ein treues Andenken bewahrt. Um den schönsten Tag meines Lebens noch jetzt zu ehren, leg' ich alljährlich dies Gewand an, wie ich Dir schon sagte."-
Es sprach ein wehmnthiger Zug aus ihrem gefurchten, strengen, aber immer noch edelschönem Antlitze, der mir in die tiefste Seele drang. Nach mehr als 50 Jahren noch dies rührende Andenken ist wohl selten auf dieser wandelbaren Erde.
Später erfuhr ich, daß Kißfalludi, nach tapferster Gegenwehr von den Rothhäuten gefangen genommen, an einen Pfahl gebunden, grausam gemartert und endlich skalpirt worden sei. Ob meine Tante selbst dies schreckliche Ende jemals erfahren hat, ist mir nicht bekannt, es wird ihr aber kaum fremd geblieben sein.
„Haben Sie, verehrte Tante, kein Bild von ihm?" fragte ich nach einer Weile.
Schweigend ging sie an ihren Sekretär, schloß eine zierliche Kassette auf, nahm aus sammetenem Umschlag ein handgroßes Blättchen und hielt es mir vor die Augen.
„Ja, das ist er!" sprach ich, „ein gleiches Bild von ihm, aber in Lebensgröße, haben wir zu Hause."
Die Nachricht, daß es ein lebensgroßes Bild von dem Verstorbenen gäbe, erfreute meine Tante ganz ungemein. Das ihrige hatte sie, wie sie sagte, selbst aus der Erinnerung gezeichnet; es war höchst sauber gehalten, als ob es eben erst angefertigt gewesen wäre. Nur unten am Rande schienen einige verwischte Wasserslecke zu sein; das waren wohl Thränen, die daraus gefallen, deren Spur nicht ganz wieder zu vertilgen gewesen war. Uebrigens gab sie es mir in ihrer Sorglichkeit nicht einmal in die Hand, sondern legte es sehr bald wieder in seine Behausung zurück.
Friederike brachte nun den Kaffee, und stellte dann ein höchst wunderliches altes Mühlbrett auf einen eichenen Tisch neben das Sopha.
Wahrend meine Tante sich ihre große goldene Brille gehörig zum Spiel herrichtete, blieb mir Zeit das Mühlbrett, das wohl schwerlich seinesgleichen irgendwo auf der Erde gehabt haben mag, näher zu betrachten.
Es war aus sehr kostbarem braungelben Holz gefertigt, dritthalb Quadratfuß groß und zeigte eine höchst künstlich eingelegte silberne Mühle. Die Steine bestanden aus Elfenbein und Ebenholz. Oben in dem handbreiten Rande saßen, ebenfalls höchst zierlich von Silber eingelegt, Adam und Eva ge- müthlich im Paradiese unter dem Baume der Erkenntniß, aus welchem die Schlange über ihnen den verhängnißvollen Apfel im Munde herabhielt. Auf dem Schoß hatte sie ein Mühlspiel, in welches Adam sehr vertieft zu sein schien, während Eva schon halb und halb nach der Schlange mit dem verbotenen Apfel schielte, lieber Adam stand in zierlicher Silbereinlage:
„Eva, thn dich wohl besinnen,
Sonsten wirst kein Spiel gewinnen!"
Eva erwiderte:
„Ei, was ich nicht weiß und kann,
Gibt mir schon die Schlange an."
Eine noch originellere Darstellung befand sich aber als Gegenstück unten.
David nämlich saß als Hirtenknabe mit ganz zersauster Allongeperrücke und einein dreieckigen Hut, einem sogenannten Wolkenstecher, auf einem Baumstamme. Um seinen Hals hing eine Schlender nebst einem großen Beutel voll Steinen, an der linken Seite ruhte Goliaths riesiges Schwert. Ihm gegenüber saß Goliath als bloßer Rumpf, sein eignes abgeschlagenes Haupt in der linken Hand haltend, während er die rechte geballte Faust drohend gegen David erhob.
Auch sie hatten ein Mühlbrett auf dem Schoße, auf welches David mit dem Finger der linken Hand zeigte. Neber ihm stand:
„Gelt, du Goliath, das schmeckt besser,
Als das Kopsabschlagen mit dem Sabelmesser?"
Ueber Goliath aber:
„Narr, hätt'st mir's zuvor gesagt,
War mein Kopf nicht abgeschlagt!"
Auf diesem seltsamen Mühlbrette spielte meine Tante täglich, mittags nach Tisch beim Kaffee, mit ihrer alten Friederike einige Partien zur Verdauung.
Diese Spielstunden waren für letztere die einzigen, wo sie einen eigenen Willen haben und einen selbständigen Entschluß fassen durfte, soweit es nämlich das Spiel betraf; die gute treue Person thaute daher bei dieser Gelegenheit ordentlich auf, und trat heute wie später nur ungern ihre Stelle an mich ab. In allem übrigen war sie längst gewohnt, aus das strengste und genaueste den Befehlen und Winken ihrer Herrin zu gehorchen, ohne nur eure Miene zu verziehen oder gar eine andere Meinung zu äußern.
Als meine Tante mit dem Schlag zwei Uhr alles geordnet und bereit fand, begann das Spiel.
Der Wahrheit die Ehre. Ich saß einer sehr geschickten schlauen Spielerin gegenüber und verlor trotz aller Anstrengung eine Partie nach der andern, bis auf die letzte, die ich gewann.
„Brav, mein Junge, kannst es noch recht gut lernen wenn wir öfters mit einander spielen. Für heute aber wollen wir schließen."
Bald daraus verabschiedete ich mich und hatte die Ueber- zeugung, ihre Zufriedenheit erworben zu haben.
Als ich ihre reichberingte sammetweiche Hand küßte, lud sie mich ein für alle Mal Sonntags zu Mittag ein, was ich natürlich dankbar annahm und streng einhielt, obwohl mir das Mühlspiel zum Nachtisch mehr als einen schweren Seuszerstein in den Weg legte.
So vergingen zwei Jahre, während welcher ich in ihrer Gunst immer höher stieg, so daß sie sogar zuletzt nicht undeutlich durchblicken ließ, mich einmal zum Erben ihres, wie sie angab, „geringen Vermögens" einsetzen zu wollen.
Daß dies Vermögen aber keineswegs gering sein konnte, ließ sich bald bemerken, denn sie besaß ein eigenes, sehr solid eingerichtetes Haus, hatte viel werthvolles Silbergeschirr, kostbaren Gold- und Edelsteinschmuck. Auch ward mir, wenn ich ihr zum Geburtstag und zum neuen Jahr gratulirte, bisweilen Gelegenheit, in ihren Geldschrank zu schauen; denn alsbald nahm sie aus einer ansehnlichen Reihe großer, militärisch geordneter Gold- und Silberrollen eine heraus, um mir jedes Mal fünf, zum Weihnachtsgeschenk aber 10 Dukaten zu verehren.
Wie höchst angenehm mir die Aussicht war, einst in den Besitz dieses Vermögens zu kommen, bedarf wohl keiner Versicherung. Ich ging daher auch allem aus dem Wege, was ihr liebenswürdiges Vorhaben irgend hätte stören können. Das war bei ihren vielen Wunderlichkeiten zwar sehr schwer, mir aber wieder dadurch erleichtert, daß ich sie wie eine Mutter verehrte.
Wie wir nun aber am ehesten da Schiffbruch leiden, wo wir recht mit vollen Segeln in den Hafen des Glückes cinzu- laufen meinen, so ging es auch hier, und zwar durch mein eigenes ganz unverzeihliches Verschulden.
Es war im kalten schneereichen Jahre 1823 in der