536
lutherischen Glauben und in der Treue zu seinem Königshause erhalten zu wollen."
Dieses Testament war zufälligerweise gerade am 14. Oktober 1806, also am Tage der Doppelschlacht bei Jena und Auer- städt, seitens der alten Konventualin, die noch denselben Winter das Zeitliche segnete, niedergeschrieben worden, weshalb denn auch Jürgaß, bei der Wiederkehr jedes 14. Oktober, in seiner Weise zu sagen pflegte: „Sonderbarer Tag, an dem ich nicht weiß, ob ich ein Fest- oder ein Trauerkleid anlegen soll; Preußen fiel, aber Dagobert von Jürgaß stieg."
Im übrigen hatte ihn die Tante richtig abgeschätzt; es steckte ihm von der Mutter Seite her, neben einem Hange zu gelegentlich glänzendem Auftreten, auch das gute Haushalten der Zietens im Blut, so daß sich sein Vermögen, aller Zeiten Ungunst zum Trotz, in den seit der Erbschaft verflossenen sechs Jahren eher gemehrt als gemindert hatte.
In besonders reicher Weise war das schon erwähnte Wohnzimmer von ihm ausgestattet worden, was denn auch zur Folge hatte, daß alle diejenigen Herren, die heute zum ersten Mal in diesen Räumen waren, ihre Aufmerksamkeit auf Pfeiler und Wände desselben richteten. Die Fülle der Ausschmückungsgegenstände, unter denen namentlich auch bemerkenswerthe Skulpturen waren, gaben dem Geplauder, das ohnehin im Auf- und Abschreiten geführt wurde, etwas Unruhiges und Zerstreutes, das dem Aufkommen eines gemüthlichen Tones ziemlich ungünstig war, von Jürgaß aber, so sehr ihm unter gewöhnlichen Verhältnissen die Pflege des Gemüthlichen am Herzen lag, nicht unangenehm empfunden wurde, da ihm nicht entgehen konnte, daß der Grund dieser beständig hin und her springenden Unterhaltung ausschließlich eine seiner Eitelkeit schmeichelnde Bewunderung für seine Kunstwerke oder aber Neugier in Betreff der sonst noch vorhandenen Sehenswürdigkeiten war.
Zu diesen Sehenswürdigkeiten gehörte vor allem der „große Stiefel", der sechs Fuß hoch, mit einer anderthalb Zoll dicken Sohle und einem neun Zoll langen Sporn daran, seinerzeit entweder selbst eine eanss eölöbrs gewesen war oder doch zu einer solchen die Anregung gegeben hatte. Es hatte damit folgende Bewandniß.
Es war am Ende der neunziger Jahre, als Jürgaß, damals noch ein blutjunger Lieutenant bei Gökingkhusaren, mit Wolf Quast vom Regiment Gensdarmes die Friedrichsstraße nach dem Oranienburger Thore zu hinaufschlenderte. Dicht vor der Weidendammerbrücke, gegenüber der Pöpiniöre, fiel ihnen ein riesiger Sporn auf, der im Schaufenster eines Eisenladens hing. Sie blieben stehen, lachten, schwatzten und setzten fest, daß der erste, der in Arrest käme, den Sporn kaufen solle. Der erste war Jürgaß. Aber der Sporn war kaum erstanden, als ein neues Abkommen getroffen wurde: „der nächste läßt einen Stiefel dazu machen." Dieser nächste nun war Quast und nach Ablauf von wenig mehr als einer Woche wurde der mittlerweile gebaute Riesenstiefel unter allen erdenklichen Formalitäten prozessionsartig erst in die Kaserne und dann in Quasts Zimmer getragen. Bon den jüngeren Kameraden beider Regimenter fehlte keiner. Da stand nun der Koloß und der Riesensporn wurde angeschnallt. Aber der einmal wach gewordene Ueber- muth war noch nicht befriedigt, und eine Steigerung suchend, wurde beschlossen, dem großen Stiefel und großen Sporn zu Ehren, auch ein entsprechend großes Fest zu geben. Der Stiefel natürlich als Bowle. Gesagt, gethan. Das Fest verlief zu vollkommenster Genugthuung aller Betheiligten, aber keineswegs zur Zufriedenheit des Kriegsministers, der vielmehr dem Unfug ein Ende zu machen und den großen Stiefel todt oder lebendig einzuliefern befahl.
Die betreffende Ordre war kaum ausgefertigt, als alle jungen Lieutenants einig waren, daß es Ehrensache sei, den Stiefel oonts HN6 oonto zu retten, der nunmehr auch wirklich bei der bald darauf stattfindenden Kasernenrevision aus einem Zimmer in das andere, und schließlich in Rückzugsetappen erst auf die havelländischen, dann auf die Ruppinschen und Prieg-
nitzschen Güter der respektiven Väter und Oheime wanderte, die sich nolene volons in das von ihren Söhnen und Neffen eingeleitete Spiel mitverwickelt sahen. So kam er schließlich nach Gantzer, und war auf ein ganzes Dutzend Jahre hin vergessen, als unser Jürgaß, bei Gelegenheit eines kurzen Besuchs im väterlichen Hause, des ehemaligen oorxns äolioti wieder ansichtig wurde, und sofort beschloß, es als originelle Zimmerdekoration in seiner eben in Einrichtung begriffenen Wohnung zu verwenden. Er machte übrigens nicht mehr von der Sache, als sie Werth war, und wenn er, die Geschichte vom „großen Stiefel" erzählend, einerseits viel zu viel Urtheil hatte, um einen Fähndrichsstreich als Heldenthat zu behandeln, so war er doch auch keck und unbefangen genug, sich des Uebermuthes seiner jungen Jahre nicht weiter zu schämen.
Der eintretende Diener, die Flügelthüren des Speisesalons öffnend, meldete durch diese stumme Sprache, daß das Frühstück servirt sei, und Jürgaß, vorausschreitend, bat seine Gäste ihm folgen zu wollen. An einem runden Tische war gedeckt. Die Gesellschaft bestand aus den Herren von Hirschfeldt und von Meerheimb; einem dem Kreise eng befreundeten Kandidaten Hausen-Grell; sowie endlich ans Tubal, Lewin und Bummcke.
Die Jürgaßschen Frühstücke waren berühmt, nicht nur durch ihre Auserlesenheit, sondern beinahe mehr noch durch die Aufmerksamkeiten und Ueberraschungen, womit er das Mahl zu begleiten Pflegte. Auch heute war er nicht hinter feinem Ruf zurückgeblieben. Unter dem Couverte von Hirschfeldt, der in Spanien gegen die Franzosen gefuchten hatte, lag, aus einem französischen Reisebuche herausgeschnitten, ein kleines Bildchen, das die „Kathedrale von Taragona" darstellte.
Auch für Bummcke war eine Ueberraschung da, die freilich mehr den Charakter einer Neckerei, als einer Aufmerksamkeit hatte. Es war eine große, neben seinem Teller liegende Papierrolle, die sich nach Entfernung des rothen Fadens, der sie zusammenhielt, als ein vielfach lädirter, in grober Schabemanier ausgeführter Kupferstich erwies. Darunterstand: „Einzug des Hauptmanus von Bummcke in Kopenhagen." Und in der That, so wenig glaubhaft ein hauptmännischer Einzug in die dänische Hauptstadt sein mochte, es sah mehr oder weniger nach etwas Derartigem aus, schon weil die Straßenarchitektur getreulich wiedergegeben und für jeden, der Kopenhagen kannte, der aus drei Drachenfchwänzen aufgeführte Spitzthurm des alten Börsengebäudes ganz deutlich erkennbar war; nichtdesto- weniger bedeutete der eigentliche Gegenstand des Bildes, auf dem man einen offenen, mit vier Pferden bespannten und von Militär eskortirten Wagen sah, etwas sehr anderes, und stellte weder die UnUöo jo^onso Bummckes, noch überhaupt einen Einzug, wohl aber die „Abführung der Grafen Brandt und Struensee zu ihrem ersten Verhör" dar. Bummcke, der den Kupferstich aus einem alten Antiquitätenladen her seit lange kannte, fand sich in dem Scherze schnell zurecht oder gab sich wenigstens das Ansehen davon, was das Beste war, das er thun konnte. Er hatte nämlich, was hier eingeschaltet werden muß, die Schwäche, mit einer etwas weitgehenden Vorliebe von seiner „nordischen Reise", der einzigen, die er überhaupt je gemacht hatte, zu sprechen und war in Folge dieser Schwäche — von der er übrigens selber ein starkes Gefühl hatte — bei mehr als einer Gelegenheit nicht blos das Opfer Jürgaßscher Neckereien gewesen, sondern hatte auch die Erfahrung gemacht, daß Stillhalten das einzige Mittel sei, denselben zu entgehen oder doch sie abzukürzen.
(Fortsetzung folgt.)
Inhalt: Im Wahn. (Schluß.) Seenovelle von B. Wagener. — Im Lande der Pharaonen. Mit zwei Illustrationen von F. C. Welsch und L. C. Müller. — Alte und moderne Automaten. Von Julius Stände. — Ans Fiebertagen. Drei Lieder von Karl Stieler. — Die Deutschen in Paris. I. — Aus der Blütezeit der Almanache. Mit sieben Illustrationen. — Vor dem Sturm. (Fortsetzung.) Roman von Theodor Fontane.
Herausgeber: vr. Robert Koenig und Theodor Kermann Ranteirius in Leipzig. Für die Redaktion verantwortlich Htto Ktastng in Leipzig. Verlag der Daheim-Krpcdition lRcthagcn L Klastng) in Leipzig. Druck von W. H. Teuvner in Leipzig.