58
Weöer Land und Meer.
In Berghauers breiter Brust arbeitete es, als wollte ein Sturm losbrechen. Er ruckte ein paarmal vom Stuhle aus, blieb aber ruhig sitzen und brachte es nach einiger Zeit fertig, zu lächeln. „Na, entschuldige, Professor, da hätt' ich mir bald 'ne Grobheit zu schulden kommen lassen. Sieh mal, sein fand' ich's nicht, wenn du das Weib, das für sein Kind arbeitet, um sein Brot bringen wolltest. Aber — thu's, wenn dir's dein Sittengesetz befiehlt. Ich Hab' mich in meinem langen Leben schon an alle möglichen .sittlichen Forderungen' gewöhnen müssen. Kurios, die Leute. . . Also gut. Du hast mir die Geschichte gewiß in bester Absicht beigebracht?"
„Lieber Wilhelm — deine Töchter!" sagte der Professor tief durchdrungen.
„Ganz meine Meinung," fügte Tante Sophie mit eiserner Ruhe hinzu. „Ich würde nicht den Mut haben, einem Manne mit diesen moralischen Qualitäten fernerhin mein Haus —"
„Lolo!" rief Berghauer, den Arm um die Schulter seiner Tochter schlingend, „sag du unfern guten Leutchen, daß sie sich unnütze Bedenken machen! Was, so ein Kerl! Ein ganzer Kerl voll Kraft und Mark! Schand' und Sünde wär's, ihn laufen zu lassen, weil er mal eine — na! — Unregelmäßigkeit —"
Aber Lotte richtete sich heftig aus seinen Armen auf. Jetzt glühte ihr ganzes Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet in Qual, Stolz, Scham und jungfräulicher Abwehr. „Nein, Papa, laß ihn nicht wiederkommen!" sagte sie hart.
Berghauer sah sie voll tiefster Bestürzung an. „Aber Mädel! Ist denn das mein Mädel? Groß sein, Kind! Dem Gestrauchelten aufhelfen. Kannst du's nicht?"
„Nein!" sagte Charlotte leise, aber unerschütterlich.
Die Tante strich ihr sanft übers Haar. „Lottchens weiblicher Takt," sagte sie, „hat entschieden."
Der Professor lächelte zufrieden. „Die Majorität, lieber Wilhelm! Die Majorität erdrückt dich!"
Er verabschiedete sich und ging mit den Schritten eines Siegers hinaus. Tante Sophie begleitete ihn.
Berghauer sah schmerzvoll enttäuscht auf seine Tochter und schüttelte langsam den Kopf.
Da blickte Lotte, die still und steinern dagestanden hatte, zu ihm auf, so verwirrt, arm, betrogen, so beraubt und glücklos, daß er sie in überwallendem Mitleiden an seine Brust drückte. „Mein armes Kind!" murmelte er.
*
Es war im Hochsommer um die Mitte des August.
In Huberts niedrigem Zimmer, das dicht unterm Dache lag, brütete eine wahrhaft tropische Hitze. Die Wände, die Decke, der Fußboden, alles schien in diesem mit Menschen vollgepfropften Hause Glut auszustrahlen. Das Fenster war geöffnet. Aber was von draußen hereinkam aus der engen Gasse, war weder Frische noch Bewegung. In schwülen Stößen, staubgesättigt, dunstig, fuhr es manchmal über den Schreibtisch hin und wühlte in dem Durcheinander, das dort herrschte, oder strich über das
aus Kästen und Schränken herausgerissene bewegliche Eigentum Huberts.
Ein paar bescheidene Koffer standen schon halb gefüllt. Hubert hatte die Joppe abgeworfen und „schuftete" in Hemdärmeln wie ein Handwerker. Das Packen war ihm eine saure Arbeit.
Er war trotz der körperlichen Bewegung, trotz des Schweißes, der ihm von der Stirn perlte, fahl von Farbe. Das dunkle Haar klebte in schweren Strähnen zusammen und hing ihm schlangengleich bis über die Brauen. Er sah schlecht aus, herabgekommen, wenigstens körperlich — aber wie einer, der zu allem fähig ist.
Aus dem Nachbarzimmer erscholl ein regelmäßiges Klopfen und Hämmern. Er hörte nicht darauf. Nur manchmal fiel es ihm auf. Dann segnete er den braven Schuster, der so fleißig seine Flickarbeit that. Der hatte ihn herausgeklopft aus der langen Lethargie, der er zuletzt verfallen war.
Schlimme Zeiten hatte er hinter sich.
Die Sommerglut schien auch sein Gehirn auszudörren. Er hatte brach gelegen, Wochen- und monatelang, und in vergeblichen Anläufen seine Kraft Zersplittert. Es war immer weiter bergab gegangen mit ihm. Aber er hatte es zwingen wollen und ausgehalten und immer von neuem versucht. Bis eines Morgens das „Klopf, Klopf" nebenan erscholl.
Das war der Tropfen gewesen, der das randvolle Gefäß überlaufen ließ. Eine Scene mit seiner Wirtin, in der ihm der Ekel vor diesem Weibe, vor diesen Verhältnissen bis an den Hals stieg — und — der große Entschluß war geboren. Hubert Schwarz brach mit allem, was nicht sein „Talent" war.
Er ging fort.
Das bißchen Wäsche war bald untergebracht, die Bücher auch. Jetzt war er über den Inhalt des Schreibtisches gekommen, und nun wurde die Sache interessanter, bedenklicher. Was steckte alles in dem großen altmodischen Möbel! Seine Entwürfe, ungeborene Werke .. . eine Fülle von Gedanken, Hoffnungen, von Bitterkeit und Enttäuschung. Ein Autodafe mitten im Sommer, bei dem der kleine Ofen, der im Winter so karg gehalten war, luftig knisterte und rauchte — Hubert Schwarz hatte die Spreu vom Weizen geschieden mit wahrhaft drakonischer Härte gegen sich selbst.
Dann kamen die Briefe — meist Geschäftliches. Aber auch Berghauers letzte Zeilen kamen ihm in die Hände. Trotz der drängenden Zeit nahm er doch das Schreiben aus dem Couvert und überlas es noch einmal. Und wieder traf ihn der väterlich herzliche Ton des Mannes.
Der Brief war im April verfaßt, kurz vor einer Reise, die der Konsul mit seinen beiden Töchtern zu unternehmen gedachte. Charlotte habe große Lust geäußert, noch eine Weile bei den Spaniern und Franzosen in die Schule zu gehn. Er selber, der die größte Freude an ihrem Eifer und an ihren Fortschritten habe, gönne ihr von Herzen eine Auffrischung und sich dazu. Leider fei es ihm nicht mehr möglich, da die Sache ein bißchen schnell gekommen, seinem jungen Freunde persönlich Lebewohl