Die Kungerjteine.
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zu sagen. Er thäte es deshalb hierdurch und bäte Hubert, wenn er irgend den Rat eines Freundes bedürfe, sich an ihn zu wenden, und so weiter.
Während Hubert den Brief langsam zusammenfaltete, überkam ihn mit frischer Gewalt das Gefühl, das ihn beim Empfang der Nachricht überfallen hatte. Eine Bitterkeit ohnegleichen. Aha! Sie laufen davon! Die bequemste und fafhionabelste Art, unliebsame Leute abzuschütteln, voreilig gegebene Versprechen und Freundschaftsversicherungen ungeschehen zu machen.
Nun, er brauchte sie nicht. Er würde sie nie bemüht haben, diese vornehmen Leute. Warum hatte er sich auch eingebildet — selbst noch eine Weile nach der letzten Begegnung mit Charlotte! Er war ein Thor gewesen. Diese Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Er konnte ihnen noch dankbar sein, daß sie eine so schnelle Entscheidung herbeigeführt hatten.
Indem er den Brief in ein Päckchen einordnete, wurde draußen an der Klinke gerüttelt, und die unverschlossene Thür prallte so plötzlich auf, daß der Besucher auf einmal mitten im Zimmer stand. Jedenfalls zu seiner eignen größten Ueberraschung.
Es war Karl Wedekind, der ein sehr verlegenes Gesicht machte, dann aber laut zu lachen anfing und ungläubig den Kopf schüttelte.
„Immer noch bei offenen Thüren, Mensch?"
Nun aber stutzte er von neuem, sah umher auf die Unordnung, die halbgepackten Koffer, die Glut im Ofen und sank fassungslos in den nächsten Stuhl.
„Was geht denn hier vor?" fragte er nach einer Weile. Die vier Treppen hatten ihn atemlos gemacht. Die furchtbare Hitze färbte sein behagliches Gesicht so dunkelrot, daß es fast einen beängstigenden Eindruck machte.
„Ich wäre heut nachmittag noch zu dir gekommen, Kindlein," sagte Hubert kühl gelassen. „Abschiedsvisite. Ich reise morgen."
„Na, Gott fei Dank, daß du dich mal herausreißt," rief Karl in seinem herzlichsten Ton. Er sah Hubert lange aufmerksam an. „Wird dir gut- thun, Hubertus. Hast's, weiß Gott, nötig."
Ein finsteres Lächeln flog um Huberts Mund. „Hast dich ja lange nicht blicken lassen."
„Nein, wahrhaftig, 's sind, glaub' ich, drei Monate her," brummte Karl, dessen Farbe jetzt ins Violette hinüberspielte. Er wirtschaftete mit dem Taschentuche aus seinem Gesicht herum, tupfte, wischte, fächelte sich, als käme er gar nicht wieder Zu sich vor Hitze. „Weißt du," stieß er dabei abgebrochen hervor, „es macht sich jetzt nämlich. Sie kommen mir schon. Geschäft nimmt riesigen Aufschwung, haha, wie man so sagt. Na, ich hau' sie ja auch nicht übers Ohr als junger Anfänger.. . Gott ja, man giebt sich Mühe..."
„Ich weiß die Ehre auch gebührend zu schätzen."
„Welche Ehre?" Karl ließ die Hand mit dem Taschentuch ruhen und sah unbefangen auf.
„Herrgott, daß du dich zu mir bemühst, vier Treppen hoch . .. und bei der infernalischen Hitze —"
Hubert ließ sich nicht in seiner Beschäftigung
stören. Ja, wie er manchmal eine kleine Zerstreutheit und Vertiefung in die Arbeit heuchelte, sah es beinah'aus, als wolle er sagen: Ich wäre lieber allein.
Aber Karl war mit den: Vorsatz gekommen, nichts übel zu nehmen. Es lag ja immer allerlei Zündstoff zwischen ihnen aufgehäuft. Und das letzte Mal war wieder etwas explodiert — durch Karls Schuld, wie dieser sich inzwischen hundertmal gesagt hatte.
Was brauchte er wild zu werden, wenn einer „seine Berghauers" nicht so bewunderungswürdig fand wie er selber? Was brauchte er dem Hubert Dinge zu sagen — er, der sonst alles innerlich verarbeitete —, die dem Hubert überraschend kommen mußten, wie ein Guß kalten Wassers?
Dem Menschen, der schon damals in einer Verfassung war, in der keiner ein ruhiges Abwägen und Ueberlegen von ihm verlangen konnte. Der überall absichtlich Kränkungen, Mißachtung, Lieblosigkeit witterte?
Aber bis heut hatte sich Karl noch nicht so weit gehabt, den ersten Schritt Zu thun. Das drückte ihn jetzt, als er den blassen Menschen sah, in dieser Unordnung, mit all der Lebenslast, die sich über den düsteren Brauen abgelagert hatte, wie ein Schatten, der nicht wegzutilgen war.
Und er antwortete aus die beißende Bemerkung so sanft, als hätte Hubert ihm etwas besonders Freundliches gesagt: „Ja, warum ich heut komme, Hubertus . . . direkt vom Bahnhof: die Hungersteine sind da."
Hubert, der eifrig in einem Schubfach gekramt hatte, richtete sich aus wie elektrisiert. „Was?" rief er, „ist's schon so weit?"
„Sie sind da. Mit diesen meinen Augen . . ."
„Wo hast du sie gesehn?"
„Bei Tetschen. Hatte da geschäftlich zu thun. Ein knifflicher Fall . . . Lokalbesichtigung ... na, das interessiert dich ja nicht weiter..."
„Nein," sagte Hubert. Er hatte jetzt alles stehn und liegen lassen, sich vorgebeugt auf seinem Stuhl und ließ kein Auge von Karl Wedekind.
„Na, also alles, wie du gesagt hattest. Um ein paar Stunden totzuschlagen, wie ich meine Sache absolviert habe, geh' ich runter an die Elbe. Unglaublich! Trostlos einfach! — Wenn man das so sieht, das Wässerchen, und wie sie baggern und machen, damit bloß das schmale Rinnsal fahrbar bleibt. . . Und überall die großen, nackten Felsen, die sonst nicht da sind (ich kenne die Gegend wie meine Tasche) — da denkt man: das kann ja nie wieder ein anständiger Fluß werden."
Er verschnaufte und wischte sich die Stirn. Aber Hubert machte ihm ungeduldig ein Zeichen, fortzufahren.
„Na, ein Kerlchen kam mir entgegen, ganz verhutzelt, die Tabakspfeife im Munde, in einer Kiepe ein frischabgezogenes Ziegenfell. Ich fragte ihn als Autochthonen nach all den Marken und Jahreszahlen, die in die Felsen eingemeißelt waren. 1616 die frühste. Dann wieder 1719 und so weiter. Die letzten in immer kürzeren Zwischenräumen — und — immer niedriger — 1873 die allertiefste.