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Ueöer Land und Meer.
„Das alte Kerlchen klöhnte und stöhnte zum Gotterbarmen. Was für Not und Kummer und Herzeleid in den Zeichen stecke, das ginge auf keine Kuhhaut. Die Geiß hätt' auch dran glauben müssen, weil sie das bißchen Futter nicht mehr auftreiben könnten... Na, da schämt man sich beinah', daß man so gut angezogen ist, so einem Wurm gegenüber. Mit einem Fünfmarkstück mußt' ich mir meine Selbstachtung erst wieder erkaufen.
„Nachher Hab' ich mit meinen Kollegen vom Gericht über die Sache geredet. Sie meinten, dies Jahr käm's noch niedriger als in den ganzen drei Jahrhunderten.
„Diese Herren waren ebenfalls sehr unzufrieden mit der Dürre. Sie hätten zu viel zu thun, oft bis in die Nacht. Bloß um all die Landstreicher, die Gelegenheitsdiebe, die Bettler hinter Nummer Sicher zu setzen. Neulich ist in der Nähe von Schueeberg ein friedliches Ehepaar, das sich ganz gemütlich mit einem Korb voll Fressabilien im Walde niedergelassen hatte, von einem frechen Kerl angefallen, tödlich erschreckt und einer gebratenen Ente beraubt worden. Mein Kollege schwor, daß die Ente dem Strolch noch lange im Magen liegen solle. Der gute Mann war außer sich über die Verderbtheit des Volks. Mit Feuer und Schwert vom Erdboden vertilgen! Dies Radikalmittel schien ihm das einzig wahre. Ich Hab' mir mein Teil gedacht. Aus nacktem, purem Egoismus. Mein Weizen blüht ja, wenn sich recht viel arme Teufel gegen das Gesetz vergehn und verteidigt werden müssen . . . Na ja..." Er lachte kurz und verschmitzt aus. Dann sagte er ohne Uebergang: „Johanna Hab' ich auch eine Ewigkeit nicht gesehn. Wie geht's ihr denn?"
Er hatte sie nicht wieder ausgesucht, aus Zartgefühl.
Sie war ihm zuletzt so bedrückt vorgekommen, so beschämt und gedemütigt. Sie mochte es ihm nicht eingestehn, daß Hubert sie mehr und mehr vernachlässige. Huberts Liebe war ihre Rechtfertigung gewesen. Jetzt wagte sie seinem Freunde nicht mehr ins Gesicht zu sehn. Bei seinem letzten Besuch hatte sie nicht geöffnet, obgleich er an des Kindes fröhlichem Lachen gemerkt hatte, daß sie zu Hause war. Da hatte er ihr weitere Verlegenheiten erspart und war fortgeblieben.
Hubert nahm Johannas Bild vom Schreibtisch, betrachtete es eine Weile und wickelte es langsam und vorsichtig in Seidenpapier. In seinem Gesicht Zitterten und zuckten die Muskeln. Es schien, als brächte er vor innerer Bewegung kein Wort heraus.
„Um Gottes willen, was hast du?" stammelte Karl tief erschrocken.
Hubert war schon wieder gefaßt. „Also weißt du noch nichts?"
„Was soll ich nicht wissen? Ist was passiert?"
„Ja."
„Mein Gott, Mensch, rede doch! Ist sie krank?"
„Das Kind ist tot."
Karl war ganz blaß geworden vor Mitgefühl. Er dachte an die arme Mutter, die nun ganz ausgeraubte. „Mein Gott, woran starb es?"
Hubert zuckte die Achseln. „Der Sommer, die Dürre. . . Vielleicht war die Milch verdorben, obgleich Johanna immer die Vorsicht selber war mit seiner Nahrung . . . Aber so ein zarter Magen. . . Vierzehn Tage hat er sich gequält, der süße kleine Kerl... hingeschwunden. . .zuletzt ausgegangen wie ein Licht.. . Und im Sarge noch so schön, wie man sich die Engel vorstellt."
Hubert hatte immer leiser und weicher gesprochen, so, als wär' das gar nicht seine metallreiche, starke Stimme, die diese zärtlichen Laute hervorbrachte.
Dann wurde es ganz still. Den: gutmütigen Karl saß etwas an der Kehle und drückte und preßte wie ein Krampf. ,Seine einzige Freude!' dachte er und sah Hubert mit verstohlener Innigkeit an. ,Und das arme Weib! Wie grausam ist das nun! Wie hart!'
„Und Johanna?" fragte er endlich laut.
Hubert riß sich gewaltsam heraus aus seinem schmerzlichen Sinnen. Es war ihm kaum noch etwas anzumerken. Er fuhr fort zu packen. Die Papierstöße auf dem Schreibtisch wuchsen an.
„Kannst dir's ja ungefähr denken," sagte er mit gemachter Trockenheit.
„Ja, freilich, eine Mutter wie die — und nichts weiter auf der Welt —"
„Zuerst hatt' ich Bange um sie. So etwas von Verzweiflung! Tag und Nacht mußt' ich bei ihr sitzen —"
„Und jetzt?"
„Ist sie ruhiger. Sie behauptet's wenigstens. Aber so oft ich komme —"
Er ächzte wie ein verwundetes Tier und fuhr sich durch sein dichtes Haar. „Immer wieder die alte Geschichte. Sie wühlt mit einer wahren Wollust in ihrem Schmerz. Wenn ich fortgehe, bin ich wie zerschlagen . . . Und arbeiten? .. . Wie mit Keulen, sag' ich dir, ist alles in mir totgeschlagen! Jeder Funke Geist, jedes bißchen Kraft! Ein Tier kann nicht dumpfer hinvegetieren, wie ich es jetzt gethan habe."
Er zog ein andres Schubfach auf und hastete mit unruhigen Händen in den Papieren herum. Karl sah ihm eine Weile zu. Dann sagte er leise: „Das muß mau nur bedenken, Hubert. Jede andre, jede legitime Mutter hat Hoffnung auf Ersatz — aber sie..."
Hubert sah auf, verwundert, gepackt, nachdenklich, während Karl fortfuhr: „Und dann die Tretmühle, in der sie hinlebt! Den ganzen Tag: klingling! Und dann für zehn Pfennig Federn. Oder 'ne Flasche Tinte . . . Und wenn sie ins Stübchen zurückkommt — die Leere.. . Und sie hat keinen Menschen außer dir," fügte er nach einer Weile hinzu, wie bittend, wie überredend.
Hubert war ausgestanden. Er ging hin und her zwischen Koffer und Schreibtisch, packte seine Schreibereien ein und schien ganz hingenommen von seiner Arbeit.
Seine Schritte, die unablässigen Bewegungen an ihm vorüber, machten Karl nervös. „Wohin gehst du?" fragte er endlich.
„Nach Berlin."