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Ueber Land und Meer.
Hubert beugte sich zu Charlotte hinüber. Wenn ! sie bis jetzt noch bezweifelt hätte, daß Hubert Schwarz sie schlecht und recht — liebte, nach diesem vollen warmen Blick, mit dem er ihre Augen suchte, konnte sie's nicht mehr.
„Darf ich Ihnen meinen Mantel anbieten, gnädiges Fräulein?" fragte er. So weich und zärtlich, als hätt' er sie in Watte Wickeln mögen, damit kein rauhes Lüftchen sie träfe. Und dabei legte er auch schon mit sorgsamer Hand seinen Ueberzieher um ihre Schultern.
Aber Charlotte zuckte unter der Berührung so heftig zusammen, daß Hubert betroffen innehielt.
„Nein, ich danke," stammelte sie verwirrt. Sie war wie mit Blut übergossen. Berghauer und Kläre, die ein solches Wesen gar nicht an ihr kannten, sahen sie erstaunt und mißbilligend an.
Hubert Schwarz aber nahm mit finsterer Miene das verschmähte Kleidungsstück wieder an sich und legte es hinter sich aus die Stuhllehne.
„Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein," sagte er kalt, „ich wußte gar nicht, daß Sie die Abhärtnngs- theorie so auf die Spitze treiben."
„Sie treibt alles auf die Spitze," brummte Berghauer unzufrieden. Diese Launen waren ihm greulich.
„Und hat morgen womöglich was weg," meinte Kläre. „Und dann können wir alle Zu Hause sitzen und ihr Kamillenthee kochen. Oder kalte Umschläge machen. Papa ist ja immer für Eis."
Lotte war ausgestanden. Es war Hubert, als hätte er Thränen in ihren Augen gesehn. „Ich laufe ein bißchen herum," sagte sie schnell. „Kalte Füße. Aber mir ist gleich wieder warm."
Als sie ein Stückchen hineingerannt war in einen dunkeln Weg, hörte sie ihres Vaters Stimme hinter sich: „Warte, ich geh' mit."
Sie stand still. Es war gut, daß es hier fast ganz dunkel war. Sie fuhr sich rasch mit dem Taschentuch über die Augen und schluckte ein paarmal.
„Kann dich doch nicht allein lausen lassen, Mädel," sagte er, als er sie erreicht hatte. Und er legte ihren Arm in den seinen. „Nun sag mal, was sind denn das für Geschichten?" fragte er dann.
Ihr Herz schlug heftig gegen seinen Arm. An ihrem Atmen hörte er, daß sie geweint hatte. Sie, seine kluge, tapfere, selbständige Lotte, die immer so stolz und fest auf ihren Füßen gestanden und alle fremde Hilfe verschmäht hatte. Und jetzt legte sie auch noch ihren Kopf gegen seine Schulter, wie ein ratloses, dummes Kind. „Ach, Papa," sagte sie mit schwerer Stimme. Und wieder schauderte sie vom Kopf bis zu den Füßen.
„Kind, das sind — nimm mir's nicht übel — Dummheiten. Oder vielleicht Launen? Das würde mich bei dir wundern."
„Nein, Launen nicht. Es sitzt viel, viel tiefer."
„Na, dann sag's."
„Das kann ich nicht, Papa. Aber seit wir wieder in Berlin sind, Hab' ich keine Nacht ordentlich geschlafen. .. darum ... Ich kann es einfach nicht begreifen — und wenn ich hundert Jahr alt werde."
„Was denn? Meinst dn die alte Liebesgeschichte von dem Schwarz?"
Sie nickte. Dann atmete sie plötzlich wieder so laut, als verbisse sie von neuem die Thränen.
„Gott, Kind — die laß begraben sein."
„Begraben?" Sie wurde leidenschaftlich. „Und wenn sie noch lebt? Und dabei. . . nicht wahr, Papa, ich irre mich doch nicht? . . . Dabei macht er mir den Hof, als wenn's ihm heiliger Ernst wäre."
„Kind," sagte Berghauer beinah' feierlich, „es ist ihm heiliger Ernst. Verlaß dich drauf."
Sie flammte auf. „Aber wie kann er! Was denkt er von mir!" Und sie blieb stehn und suchte ihrem Vater ins Gesicht zu sehn. Das war ganz ruhig. Gar nicht, als wenn sich's um „fürchterliche" Dinge handle. Sogar ein Lächeln lag ihm aus den Lippen.
„Vielleicht denkt er, daß du groß genug bist, ihm eine Jugendthorheit nicht nachzntragen."
Sie blieb eine ganze Weile stumm und starr. „Du nimmst es ja sehr leicht," sagte sie endlich, ungläubig und bitter.
„Kind," meinte er beschwichtigend, „es überrascht mich einigermaßen, daß du so hart, so spießbürgerlich moralisch ... dn — als Künstlerin . . . und bist so weit herumgekommen in der Welt —"
„Was hat das damit zu thun?" rief sie glühend.
Sie dauerte ihn in innerster Seele. An ihrer tiefen Verstörung merkte er, wie viel Hubert Schwarz ihr war und wie sie litt bei dem Gedanken, ihn verachten zu müssen.
Was wußte dies Mädchen von den Versuchungen des Mannes, von den herrschenden Anschauungen, von der weitherzigen Toleranz, die sich und andern lächelnd verzeiht! Und schonend und Zartfühlend, aber voll Offenheit, schilderte er ihr diese dunkle Seite unsers Kulturlebens. Er konnte es ihr nicht ersparen. Sie mußte sich damit absurden, wie mit vielen andern häßlichen Dingen, über die wir hinwegkommen müssen.
„Ich glaube, Kind, wenn du dir unsre Männer so genau unters Mikroskop nimmst — in dem Punkt wirst du nicht viel Rühmliches zu Tage bringen," schloß er. „Der alte abgedroschene Satz von der ,Episode', die die Liebe im Leben des Mannes sein soll, hat in gewissen: Sinne — aber versteh mich recht, Kind, nur in diesem noch immer feine Bedeutung."
„Nenn es nicht Liebe, Vater!" rief sie. Und wie ein Verzweiflungsschrei kam es aus ihrer Brust. „Nicht Liebe, Vater! Entweihe das Wort nicht!"
„Nein," sagte Berghauer gütig, voll Ernst und tröstend, „ich thu's auch nicht. Ich will bloß sagen: ein Mensch, wie der Schwarz, der wirft so eine ,Episode' von sich, wie einen alten Rock. Gottlob, daß der nicht an ihn festgeschmiedet ist und ihn am Wachsen hindern kann . . . Und nun, mein altes verständiges Mädel, beruhige dich. Und verdamm mir den braven Kerl, den Schwarz, nicht bis in den Abgrund der Hölle."
(Fortsetzung folgt.)