Heft 
(1897) 10
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Das Hraining der Rennfahrer.

Ein großer Irrtum wäre es, wenn man glaubte, daß alle diese verschiedenen Aufgaben des Trainings sich nach einer einzigen, bestimmten Methode behandeln ließen. Im Gegenteil, man kann vielmehr sagen, daß jeder Fahrer eines besonderen, seiner Individualität entsprechenden Trainings bedarf.

In erster Linie gilt dies von der Diät, die ein auf­merksames Selbststudium seitens des Fahrers erfordert. Alan ist in dieser Hinsicht von der Aufstellung fester Regeln fast ganz abgekommen. Während die alte Schule dem Trainierenden eine engbegrenzte und höchst einseitige Fleisch­kost vorschrieb, gilt heute im allgemeinen der Grundsatz, daß der Fahrer essen soll, was ihm schmeckt und bekommt. Die Fettentziehung, die beim Training eine nicht unwichtige Rolle spielt, wird heute mehr durch die Arbeit, Bäder,

Abreibungen und so weiter als durch die Diät zu erreichen gesucht. Un­bedingt verboten sind nur scharfe Ge­würze, während in Bezug auf Bier und Tabak möglichste Enthaltsamkeit als Regel gilt. Nach den heutigen Er­fahrungen ist man ferner allgemein der Ansicht, daß das Trinken nach Möglichkeit einzuschränken fei. August Lehr genießt zum Beispiel seit seiner Rückkehr aus Amerika keinerlei Flüssig­keit mehr, in welcher Form es auch sei. Ein weiterer allgemein anerkannter Grundsatz ist, daß man nicht zwischen den Mahlzeiten trinken soll, und schließlich ist noch als Hauptregel zu erwähnen, daß der Magen nie über­laden werden darf. Abgesehen von diesen Einschränkungen ist dem Fahrer volle Freiheit gelassen, seine Mahl­zeiten dem persönlichen Geschmack und Bedürfnis entsprechend eiuzurichten, was natürlich nicht ausschließt, daß Leute, die Neigung zum Fettansatz haben, sich in Bezug auf settbildende Speisen gewisse Beschränkungen nuf­erlegen müssen.

Die eigentliche Trainierarbeit wird am besten im Frühjahr damit be­gonnen, daß der Fahrer in den ersten beiden Wochen morgens und nach­mittags je 8 bis 10 Kilometer in mäßigem Tempo auf der Landstraße fährt. In der zweiten Woche wird das Tempo etwas gesteigert, doch nicht über zweieinhalb Minuten pro Kilo­meter; auch werden die Frühfahrten etwas länger, etwa bis zu 15 Kilometer, ausgedehnt. Nach Ablauf dieser Zeit beginnt daun die Arbeit auf der Rennbahn.

In neuerer Zeit ist es immer mehr Sitte geworden, daß sich die Fahrer zu diesem Zweck unter die Aufsicht eines Trainers oder eines älteren Kollegen begeben. So hatte Lehr im Frühjahr 1897 eine Trainierschule auf der Rennbahn in Hnlensee bei Berlin eingerichtet, die vor­zügliche Resultate erzielte. Ist die Teilnahme an einem derartigen Kursus nicht angängig, so müssen die Fahrer sich gegenseitig unterstützen und kontrollieren, denn die ge­meinsame Arbeit ist ungleich fördernder und wirksamer als die Einzelarbeit.

Die Thätigkeit auf der Bahn gliedert sich wieder in zwei verschiedene Aufgaben: das Tempofahren und die Hebung des Spurtens. Unter ersterem versteht man das

Znrücklegen einer längeren Strecke in scharfem und vor allein möglichst gleichmäßigen: Tempo. Der Spurt ist die aufs äußerste gesteigerte Endgeschwindigkeit, bei der der Fahrer sein Letztes einsetzt, um dem Gegner den Vorrang abzulaufen. Er beginnt gewöhnlich erst innerhalb der letzten 100 bis 200 Meter, bisweilen aber auch schon 500 Meter vor dem Ziel. Im allgemeinen pflegen die Trainierenden in den Morgenstunden Tempo-Arbeit zu ver­richten, während man die Nachmittage der Entwicklung der Momentschnelligkeit widmet.

Nach Blaßgabe dieser generellen Voraussetzungen spielt sich die Ausbildung des Rennfahrers nun in folgender Weise ab: Nachdem der Fahrer früh morgens eine:: kurzen

W,',.

Die letzte Runde, an der Kurve.

Spaziergang gemacht hat, begiebt er sich nach seiner Kabine auf der Rennbahn, um sich zunächst einer trockenen Ab­reibung zu unterziehen. Alsdann legt er den Rennanzug an, und die Arbeit kann beginnen. Am ersten Tage werden 5 bis 10 Kilometer in einem Tempo von etwa 2 Minuten 10 Sekunden pro Kilometer gefahren. Mit jedem fol­genden Tage wird das Tempo um 3 Sekunden gesteigert, so daß die 10 Kilometer nach ungefähr 14 Tagen in 16 Minuten zurückgelegt werden.

In den Trainierschulen wird die Strecke gewöhnlich hinter einer mehrsitzigen Schrittmachermaschine zurückgelegt. Ist eine solche nicht vorhanden, so müssen die Fahrer sich abwechselnd selbst führen, damit für den einzelnen keine Ueberanstrengung eintritt. Jedesmal nach Beendigung der Arbeit begiebt sich der Fahrer sofort nach seiner Kabine.