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Keöer Land und Weer.
und Wald und Wiese in Jahrhunderten noch im stände sein, alles das hervorzubringen, was die bis dahin stark vervielfachte Bevölkerung der Erde zur Stillung ihres Hungers bedarf? Diese Magenfrage ist jedenfalls ungleich wichtiger als alle andern. Daß man in Zukunft angenehmer, schneller und billiger reisen, Manufakturgegenstände billiger kaufen nnd mit größerem Komfort wohnen wird als heute, ist als sicher anzunehmen und höchst erfreulich; es ist aber keine Existenzfrage. Dagegen aber ist es sicher, daß bei dem Fortwachfen der Bevölkerungen wie bisher in nicht gar so ferner Zeit der Augenblick kommen muß, in welchem bei der heutigen Art und Weise der Nahrungsmittelproduktion der Erdraum für die Menschheit zu klein wird. Lange bevor die heute noch fast menschenleeren, ungeheuren fruchtbaren Landstrecken Nordamerikas, Südamerikas und Sibiriens mit dichteil Ansiedelungen bedeckt sein werden, müßte der Zeitpunkt eintreten, wo die heutigen Kulturstaaten des westlichen Europa, die schon jetzt hie und da eine beängstigende Uebervölkerung zu zeigen beginnen, hinter der dann Hunderte von Millionen zählenden Bevölkerung jener noch auf lange mit freiem Grund und Boden versehenen Zukunftsstaaten weit zurückbleiben und in wirtschaftliche und politische Ohnmacht versinken werden. Und das ist allerdings eine Existenzfrage ersten Ranges.
Die Landwirtschaft, die längst die unergiebige Dreifelderwirtschaft verlasseil hat, mit künstlichen Düngstoffen arbeitet, von fremdher reicher tragende Nutzpflanzen einführt und mit allen möglichen Maschinen den Boden bebaut, hat es zwar, dank dieser intensiveil Kultur, verstanden, der Ackerkrume einen ungleich größeren Ertrag abzupressen als früher. Aber auch dies hat seine Grenzen; die Unkosten des Anbaues wachsen in rascherem Verhältnisse als das Erträgnis; Regen und Ueberschwemmungen, Dürre, Insektenfraß, Hagelschlag und Stürme bedrohen wie vor Jahrtausenden die Ernte von der Aussaat bis zur Reife, und während der Wohlstand des Landwirts bei den voll der ausländischen Konkurrenz gedrückten Preisen stetig zurückgeht, erhebt die Brotfrage in den Industriezentren drohend ihr Haupt, sobald die nach einer Reihe von Jahren immer wieder auftretenden Krisen den Arbeitsverdienst der großen Massen schmälern.
Einen Ausweg aus all dieser Wirrnis und Bedrängnis zn finden, scheint einzig und allein die Chemie berufen zu sein, die sich kühn und mit großer Aussicht des Gelingens daran macht, Nahrungsmittel auf küustlichem Wege herzustellen. Noch vor siebzig Jahren galt es als Glaubenssatz, daß es zum Zustandekommen der im Tier- und Pflanzen- körper vorkommenden organischen Verbindungen der unfaßbaren und unbegreiflichen Lebenskraft bedürfe, und daß ihre künstliche Herstellung in der Retorte des Chemikers ein Unding sei. Mit diesem wissenschaftlichen Vorurteil räumte die bald darauf gelungene Darstellung des Harnstoffes aus cyan- saurem Ammoniak gründlich auf. Unterstützt durch eine geniale Theorie von der Natur und Struktur der Kohlenstosf- verbindullgen, ist es den Chemikern seitdem gelungen, zahllose Stoffe „synthetisch", das heißt aus ihren Elementen auszubauen, die vordem nur aus Tier- lind Pflanzenkörperu gewonnen werden konnten. Ameisensäure, Essigsäure, verschiedene Alkohole, Vanillin, Indigo, Traubenzucker und so weiter sind auf diesem Wege hergestellt worden, und kein geringerer als Werner Siemens hat, auf der Ueberzeugung fußend , daß im Pflanzen- und Tierkörper dieselben Kräfte thätig sind wie in der Retorte, die Ansicht ausgesprochen, daß wir dahin kommen werden, auch die menschlichen Nahrungsmittel aus ihren Urstosfen zu erzeugen.
Wenn man Kohle in fein verteiltem Zustande mit Kalkpulver mischt und in elektrischen Oefen großer Hitze aussetzt, gewinnt man das sogenannte Calciumcarbid, einen höchst eigentümlichen Körper, der seit etwa drei Jahren in Form von
armdicken Stangen in den Handel kommt. In Berührung mit Wasser giebt dieses Calciumcarbid das früher nur mühsam in geringen Mengen darstellbare Acetylengas ab, das für die moderne Beleuchtungstechnik von großer Bedeutung zu werden verspricht, aus dem man aber auch mittels eines verhältnismäßig einfachen Prozesses Alkohol gewinnen kann. Der Wert dieser Entdeckung ist zunächst wohl nur ein theoretischer ; denn der so produzierte Alkohol kommt viel teurer zu stehen als der ans Kartoffeln oder Getreide durch Gärung gewonnene, und darüber, daß eine spottbillige Herstellung des Alkohols aus den Urstosfen der Menschheit eher zum Fluche als zum Segen gereichen würde, dürften wohl alle einig sein.
Die „blaue Blume", nach der der Nahrungsmittelchemiker sucht, ist vielmehr die Gewinnung von Eiweiß, Stärkemehl und Fetten aus den billigsten Rohstoffen; unter diesen kommen aber vor allem Gras, Hen und Holz in Betracht. Während wir heute unfern Eiweiß- und Fettbedarf hauptsächlich durch das Fleisch unsrer Schlachttiere decken und die Kohlehydrate Zucker und Mehl in fertigem Zustande den Früchten der Pflanzen entnehmen, soll das ganze Körper- gcrüst der Pflanze künftighin zur Ernährung ausgenützt werden. Daß dies nicht so unmöglich sein kann, beweist uns täglich das Beispiel unsrer Schlachttiere, des Rindviehs, der Schafe, Ziegen, Schweine, des Geflügels, die ihre stattliche Leibesfülle zum größten Teile den Gräsern verdanken, während uns das Fleisch der selber fleischfressenden Tiere widerwärtig und unbekömmlich ist. Zarte Cellulose aber, wie sie sich in den jungen Gemüsen vorfindet, wird auch vom menschlichen Magen verdaut; die derbere Cellulose hingegen trotzt den Verdauungskräften desselben, dessen dünne Wandungen nicht darauf eingerichtet sind, den Zellstoff so innig zu verreiben wie dies im Magen der Wiederkäuer geschieht, die den größten Teil des Tages mit Fraß und Verdauung zübringen.
Tatsächlich enthalten Gras und Heu alle zum Fortbestehen des menschlichen Lebens erforderlichen Substanzen in reichlichem Maße. Nach umständlichen Berechnungen, die freilich immer nur Mittelwerte liefern, braucht ein körperlich arbeitender Mann von 30 Jahren und 70 Kilo Gewicht 140 Gramm Eiweiß, 70 Gramm Fett und 350 bis 400 Gramm Kohlehydrate. Um das Eiweißbedürfnis zu decken, müßte er täglich etwa 280 Gramm Magerkäse oder 500 Gramm Erbsen oder 550 Gramm mageres Fleisch oder 18 Stück Hühnereier oder 1450 Gramm Schwarzbrot oder 4 J 2 Kilo Kartoffeln oder endlich 17 Liter- Bier genießen; die notwendigen Kohlehydrate aber würden durch 450 Gramm Speck oder 830 Gramm Weizenmehl oder 1350 Gramm Schwarzbrot oder 3100 Gramm Kartoffeln oder 13—14 Liter Bier gedeckt werden. Die genannten 140 Gramm Eiweiß sind nun, wie genaue chemische Untersuchungen der neuesten Zeit ergeben haben, bereits in 700 bis 800 Gramm guten Wiesenheus enthalten, und es käme nur daraus an, das Eiweiß aus den Banden der fast unverdaulichen Pflanzencellulose zu befreien. Diesem Ziele sucht man sich auf zwei Wegen zu nähern. Der erste beruht darauf, daß man die Pflanzen so fein zerreibt, bis die zerstörte Faser und mechanisch zertrümmerte Zelle ihre sämtlichen direkt verdaulichen Bestandteile an den Magen abgiebt. Eine Vorahnung dieser Möglichkeit hat man übrigens schon lange gehabt, insofern man zu Zeiten großen Getreidemangels Holzmehl, sein zerkleinertes Heu und Stroh und so weiter dein Brotteige beigemengt und damit ein zwar kümmerliches, aber doch wenigstens vor dem grimmigsten Hunger schützendes Nahrungsmittel geschaffen hat. Man ist auch in neuerer Zeit dahinter gekommen, daß ein aus reinem Mehl hergestelltes Brot in seinem Nährwerte weit hinter den Kleien- und Schrotbroten zurübleibt, die das Zellengerüste des Getreides und damit auch die reichlichen