Heft 
(1897) 10
Seite
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Weites vom Wüchertilcls.

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Masse von Truppen zusammengefnnden.Die Dörfer konnten die Menge nicht fassen; soweit das Auge reichte, sah man das unermeßliche Heer, das, wie die Rede damals unter den Truppen ging, Rußland zum Bunde mit Frank­reich zwingen und dann, vereinigt mit den Russen, die Engländer in Ostindien angreifen sollte. Der französische Soldat, der keine Ahnung von Geographie hat, glaubte ganz im Ernst an diesen abenteuerlichen Zug. In diesem weiten Feldlager hörte man fast alle Sprachen reden; fast alle Staaten des europäischen Kontinents hatten Truppen gesandt. Der Däne stand neben dem Kroaten, der Preuße folgte mit verbissenem Ingrimm dem französischen Adler, der Holländer, der Bayer, der Württemberger, der West­fale, der Polack, der Italiener, alle folgten dem Befehl desselben Führers. Ein zahlreicheres und schöneres Heer, eine solche Artillerie, so viele berühmte, tapfere Generale hatte die Welt noch nie beisammen gesehen. Drei Viertel des Heeres bestanden aus Nationen, deren wahren Inter­essen der beginnende Krieg schnurstracks entgegen war. Viele waren sich dessen bewußt und wünschten in der Tiefe der Brust mehr den Russen als sich selbst den Sieg, und dennoch war jede Truppe brav und focht am Tage der Schlacht, als gelte es ihre eignen höchsten Interessen. Wer kein höheres Ziel vor Augen hatte, wer nicht wie der Pole fürs Vaterland kämpfte oder richtiger, Napoleons Versprechen trauend, fürs Vaterland zu kämpfen glaubte, wollte wenigstens seine eigne Mannesehre und die Ehre seiner Nation Hochhalten, indem er keinem andern den Vor­rang einräumte. So entstand gerade aus dieser bunten Zusammensetzung des Heeres ein edler Wettstreit des Mutes und der Tapferkeit, und wie auch der einzelne über Na­poleon sonst denken mochte, ob er ihn liebte oder haßte, so war doch wohl im ganzen Heere keiner, der ihn nicht für den größten und erfahrensten Feldherrn hielt und un­bedingtes Vertrauen auf sein Talent und seine Kombinationen setzte. Wo sich der Kaiser zeigte, glaubte sich der Soldat des Sieges gewiß; wo er erschien, ertönte ein tausend­stimmiges Vive l'Iimpövsuv! Derblendende Scheinseiner Größe überwältigte auch mich," sagt Gras Wedel ehrlich, und riß mich hin zu Bewunderung und Enthusiasmus, daß ich aus vollem Herzen, mit aller Kraft meiner Stimme einstimmte in das Vive l'Lmpsrsur!" Einen Siegeszug glaubte diese große Armee anzutreten, als sie sich in dem letzten Drittel des Juni nach Osten zu in Bewegung setzte, es wurde ein Zug des Todes, wie ihn die Welt seitdem nicht mehr gesehen hat. Die Division Bruyere führte zwar den Namen Reservekavallerie, versah aber von Anfang des Krieges an bis zu ihrer gänzlichen Auslösung fortwährend den äußersten Vorpostendienst und bildete beständig die Avantgarde. Graf Wedel war jung, gesund, kräftig und gut beritten, und er ertrug die Ungeheuern Strapazen des Krieges ohne viele Beschwerden. Aber die französische Armee hatte schon in den ersten Wochen des Vormarsches starke Verluste.Seit Wilna versahen wir den Vorposten­dienst. Selten ward der Sattel vom Rücken des Pferdes genommen, nachts nie, weil man, besonders den Kosaken gegenüber, immer gegen nächtliche Ueberfälle gerüstet sein mußte. Hundert Kosaken, der Gegend und jedes Steges kundig, konnten, ohne Gefahr für sie, in der Nacht ganze Armeecorps alarmieren. Fanden sie die Vorposten wachsam, so zogen sie sich schneller, als sie gekommen waren, sicher gegen jede Verfolgung, zurück in das Dunkel der Nacht; überraschten sie den schlecht bewachten Feind, so benutzten sie ihren Vorteil, so gut sie konnten. Dieser beständige Vorpostendienst hatte Mann und Pferd ermüdet, das seit Wilna eingetretene nasse und kalte Wetter viele Leute und Pferde krank gemacht. Aber wir drangen immer weiter vor, nicht wissend, was aus den Zurückgebliebenen geworden. So verlor die Armee im Vorrücken und entfernte sich von

ihren Hilfsmitteln, während der Feind im Rückzuge ge­wann und sich seinen Hilfsmitteln immer mehr näherte. Anfangs viel schwächer als das französische Heer, ward das russische täglich stärker, während jenes sich täglich minderte." Vorpostengefechte und Schlachten dezimierten die französische Armee.Am 19. August," erzählt Graf Wedel,gingen wir über das Leichenfeld von Smolensk. Mehrere tausend Tote bedeckten es, aller Kleider beraubt, unter den Strahlen der Augustsonne in schnelle Verwesung übergegangen, die Leiber blau, hoch aufgetrieben, die Glieder geschwollen, ein grausiger Anblick. Das Innere von Smolensk war nicht weniger geeignet, Entsetzen zu erregen. Die meisten Häuser waren in Flammen auf- gegangeu, die Hölzernen bis auf den Boden verbrannt, die steinernen ganz ausgebrannt. Die abziehenden Russen hatten alles verwüstet, was irgend hätte von Nutzen sein können. Leichen überall, aber welche Leichen! Niemand hatte Zeit und Lust gehabt, sie aus dem Wege zu räumen, und gleichgültig, durch Gewohnheit des täglichen Anblicks und eignen Leidens, gegen das, was in andern Zeiten den Ge­fühllosesten mit Schauder erfüllt haben würde, waren Geschütz, Bagage, Pferde und Fußvolk zweier Armeen über Tote und Verwundete hinweggezogen. Die Körper waren zerschmettert, platt gefahren und getreten, das Blut hatte sich mit dem Staube vermischt und war mit demselben zu einer festen Masse zusammeugeknetet; die Straßen waren wie mit einem dicken, weichen Teppich bedeckt. Mit Schaudern dachte man: das waren Menschen wie du, das kann auch aus dir werden! Auch ich zog darüber hinweg, wie Tau­sende vor und nach mir, als ich zwischen zwei nieder­gebrannten .Häusern einen schmalen Garten bemerkte, in welchem unter Obstbäumen, die verkohlte Früchte trugen, fünf oder sechs im eigentlichen Sinne des Wortes gebratene Menschen lagen. Wahrscheinlich waren es Schwerverwundete, die man, ehe es gebrannt, unter dem Schatten der Obstbäume niedergelegt hatte. Die Flamme hatte sie nicht unmittelbar berührt; aber die Hitze hatte die Sehnen der Arme und Beine zusammengezogen und in gräßlicher Verzerrung krumm gegen die schwarzgesengteu Leiber gebogen. Die Lippen waren von den weißen, schrecklich hervorstehenden Zähnen zurückgezerrt, und tiefe, finstere Löcher bezeichnten die Stelle der Augen. In diesem Kriege war es überhaupt nicht Sitte, die Leichen zu begraben. Der tägliche Anblick ver­stümmelter, von Tieren benagter Körper, das Jammer­geschrei Verwundeter und Sterbender, denen man nicht helfen konnte, und an denen man, ohne ihr Flehen zu be­achten, vorüberziehen mußte, hatte Herz und Gefühl gegen fremdes Elend abgestumpft und verhärtet. Aber der An­blick dieser bei langsamer Glut gerösteten Menschen ließ uns dennoch erbeben und machte uns die Haare sträuben. Wir waren froh, auf der andern Seite von Smolensk wieder reine Luft atmen zu können." Die große Armee war begleitet von einem Troß, so ungeheuer und so un- discipliniert, wie ihn keine moderne Armee mehr um sich dulden dürfte, ohne in ihren Bewegungen auf das ärgste gehindert zu werden.Jeder Offizier," erzählt Graf Wedel, hatte einen Lancier, der sein Aufwärter war und dem ganz besonders dis Wartung der Pferde und des Sattel­geschirrs oblag. Er war dienstfrei; nur am Tage des Gefechtes mußte er im Glieds sein, womit es aber auch nicht so genau genommen wurde. Meinen Aufwärter hatte ich schon in Hannover unter den dort mir übergebenen westfälischen Kavalleristen ausgewählt. Er hieß Rosemann und war aus Osnabrück. Er drängte sich gar nicht dazu, im Glieds zu stehen, wenn es zum Gefechte ging, war aber ein braver Kerl, wenn er einmal darin war. Außer dem kommandierten Aufwärter hatte jeder Offizier einen oder mehrere Privatdiener, die Stabsoffiziere wohl drei bis vier. Diese waren teils ausgediente Leute, die schon vor