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Weues vom Nüchertisch.
würden." Je mehr die Armee sich Moskau näherte, um so größer wurden die Strapazen und die Entbehrungen. Auch Graf Wedel hatte unter einer starken Brechruhr zu leiden. Aber so matt und elend er sich auch fühlte, er hielt doch bei seinem Regiment aus, „denn jeder hatte die größte Furcht vor dem offenen Grabe, welches man Hospial nannte". Endlich hatte die Avantgarde Moskau vor Augen. Den Kreuzfahrern kann nicht viel anders zu Mut gewesen sein, als sie die Zinnen und Türme von Jerusalem erblickten, als den Kriegern Napoleons in diesem Augenblick. „Als wir oben auf dem Hügel angekommen waren," erzählt Graf Wedel, „sahen wir im Hellen Sonnenschein zu unfern Füßen eine ungeheure Stadt mit Hunderten von Türmen und Türmchen in der weiten Ebene vor uns. Moscou! Moscou! tönte es durch die Reihen. Ist das wirklich Moskau? Ja, es ist Moskau, das langersehnte! Tausendstimmiger Jubel ertönte durch die Glieder. Wir sind am Ziele! Der Krieg hat ein Ende. Die versprochenen Winterquartiere liegen vor uns. Alle Mühseligkeiten, alle Not, alle Leiden waren vergessen. Wir, die wir uns täglich tapfer unter Murats Augen geschlagen haben, wir, deren Reihen auf die Hälfte herabgesunken sind, wir werden unter Murats Schutz in Moskau bleiben. Die Truppen hinter uns, die wenig vom Kriege gelitten haben (das glaubten wir), werden in die Umgegend gelegt werden. Unser warten jetzt Belohnungen, sie werden kaiserlich aus- fallen, nach Verhältnis unsrer Mühen und Gefahren. Unser warten Beförderungen, sie müssen bedeutend sein, denn es sind ja so viele Vakanzen. Aus Blühe und Not wird jetzt Freude und Ueberflnß erwachsen. So war unser Gedankengang, so redeten wir uns zu, als wir die ungeheure Stadt mit ihren vergoldete!: Türmen, mit ihren rot und schwarz gemalten Dächern, mit ihren Palästen und niederen Häusern, niit den großen grünen Parks innerhalb der Stadt vor uns ausgebreitet sahen. Plötzlich sprengte ein Ordonnanzoffizier des Kaisers an uns vorbei und gleich nachher erschallte das Kommando: Oolonue Kulte! Da zogen die kaiserlichen Garden en Zrunätz tsnus wie zu einer Parade an uns vorüber. ,Voilu eetttz Zurätz, gut ns 8'tzst point duttu ptznäuut touttz lu Zuerre! INI«; vu tuirs btzlltz jumktz u Ncweou. lslous, 1u eauaiUtz, uous mtztttzron8 pu8 ls utzri! 0'68t iuäiZntz! e'tzst uutz llorreur ll riefen sich die Offiziere zu. Mit innerer Wut sahen wir diese prächtige, beneidete, bevorzugte Garde an uns vorüberziehen, und unsre schönen Phantasiebilder begannen bereits zu zerrinnen. Von der Höhe des Sperlingsberges, auf der wir hielten, sahen wir jenseit Moskaus in der Ebene lange schwarze Züge; mit Fernrohren erkannten wir, daß es Massen von Volk zu Fuß, zu Pferd, zu Wagen waren, welche die Stadt verließen. Kein Schornstein rauchte. Sollten die Einwohner entflohen sein? Ist es möglich, daß 400 000 Einwohner ihre Heimat verlassen, wie ein paar Hundert ihr Dorf? Während wir so Moskau betrachteten und die verschiedensten Gefühle uns aufregten, zeigten sich links von uns größere Abteilungen von Kosaken. Ptzts ätz tzoloiiiitz ü Zuuelltz! Nuvtzdo! sLäisu Nostzou! Wir hinter den Kosaken her, die durch die Moskwa reiten, nur nach durch den Fluß, und bald waren sie uns aus den Augen verschwunden." Aus dem Biwak, das das Regiment in der Nähe Moskaus beziehen mußte, sah Graf Wedel die ersten Rauchsäulen emporsteigen, an einem vollständig ausgebrannten Schlosse in der Nähe der Stadt fand er auf einer an die rauchenden Mauern gelehnten Holzthür mit Kreide in großen Buchstaben geschrieben die Worte: „Os eornttz Rostopekintz, Oouverutzur ätz N 086 OU, propristalrtz äs es okuttzuu, l'u iueeuäis ätz 8U propre inuin, utin Hu'uueun eliitzi: äs krantzuis ne pui886 r loZtzr!^ Immer noch hoffte die erschöpfte Armee, es werde ii: Bioskau zu einem Friedensschluß kommen. Wie eitel
diese Hoffnung war, erkannte man erst, als die kaiserliche Garde Moskau verließ und den Rückmarsch antrat. Während des ganzen Vormarsches geschont, war sie die einzige intakte Truppe der großen Armee. „Napoleon zog mit der Garde, die sich noch stattlich und imposant ausnahm, voran," so schildert Graf Wedel den Rückzug der französischen Armee; „kurz hinter derselben folgten die Trümmer der Division Bruyöre, noch etwa 1200 Pferde stark. Aber was für Pferde! Matt sich hinschleppende, aufs äußerste ermüdete Pferdeskelette, von den Reiten: meist am Zügel gezogen; denn nur wer selbst so matt war, daß er nicht mehr gehen konnte, blieb auf dem Pferde sitzen. Auch mein kleiner Fuchs war mager geworden, aber noch immer mutig. Ich schonte das Pferd, soviel ich nur konnte, und ging fast immer zu Fuß, es am Zügel führend. Vom Feinde hattei: wir seit Malo-Jaroslawetz nichts mehr gesehen. Wir sattelten jetzt nachts ab, um die Pferde etwas ruhen zu lassen. Dann aber zeigte sich der widrige Anblick der eiterigen, wunden Rücken. Es war fast kein Pferd ohne schweren Druck, und der Eiter verbreitete einen widrigen, abscheulichen Gestank. Die Tage waren hell und sonnig, das Marschieren ward mir leicht, aber die Nächte waren sehr kalt. In der Nacht von: 26. auf den 27. hatte es schon stark gefroren. An ordentlichen Lebensmitteln fehlte es gänzlich. Schon fing man an, das Fleisch der gefallene!: elenden Pferde zu genießen, das, an: Feuer ohne Fett geröstet, zähe wie Leder war und widerlich schmeckte. Brot bekam man fast nie zu sehen. Korn wurde zerstampft und eine Abkochung davon getrunken, oder es wurde auch in der Pfanne geröstet und körnerweise im Gehen gekaut. Die Pferde bekamen meist nur Dachstroh und Laub. Diese Entbehrungen und Fatigen, dazu die Kälte der Nächte, führten zuerst einen ungeheuren Verlust an Pferden herbei. Als wir ii: Wiasna am 31. Oktober anlangten, waren vom Regiment kaum noch 200 Pferde zusammen. In Smolensk, so ward uns gesagt, würden wir gefüllte Magazine finden, dort werde die Not ein Ende haben und der Rückzug aufhören, dort warteten unsre Reserven in fester Stellung, um uns aufzunehmen. Man glaubt so gern, was man wünscht und hofft, und die Hoffnung gab uns Blut und Kraft, unser Schicksal zu tragen. Aber die moralische Kraft genügt nicht allein, es gehört ein Maß physischer Kraft und Gesundheit dazu, wie nur wenige sie haben, um solche Strapazen zu ertragen. Vielei: ging die körperliche Kraft aus; es war ein herzzerreißender Anblick, die zum Tode Müden straucheln und wankenden Schrittes wie Betrunkene taumeln, dann niederfallen und vergebliche Versuche machen zu sehen, wieder aufzustehen. Taufende und Abertausende habe ich so wanken und fallen sehen, die dann die Vorüberziehenden mit herzzerreißenden: Jammergeschrei um Hilfe, um Brot oder um einen Schluck Branntwein anflehten. Der einzige Liebesdienst, den man ihnen erweisen konnte, war, sie vom Wege abzuziehen und zur Seite zu legen, damit sie sicher vor den Trittei: der Pferde und Menschen und den Rädern des Fuhrwerks in Ruhe sterben konnten; aber auch dies ging nicht länger, da der Elenden zu viele waren und man mit den eignen Kräften aufs äußerste geizen mußte. Man mußte sein Ohr dem Jammergeschrei verschließen, Hilfe war nicht möglich. Die Nächte wurden immer kälter, die Not stieg noch höher. Der Verlust an Menschen und Pferden wurde täglich größer. Jeden Morgen blieben Leute, unfähig, ihre voi: Mattigkeit und Kälte erstarrten Glieder zu bewegen, an den erlöschenden Biwakfenern liegen. Von uns wurden keine Dienste mehr verlangt, weil wir keine mehr leisten konnten. Wir schlossen so dicht wie möglich auf die Garden und sahen daher wohl nicht alles das Gräßliche, was die Arriere- garde und die verfolgenden Russen gesehen haben. Seit einigen Tagen bemerkten wir Kosaken- und Baschkiren-