Heft 
(1897) 10
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Weber Land und Meer.

schwärme, die ans Kanonenschußweite den großen Heerweg, ans dem wir zogen, cotoyierten und jedes Abweichen vom Wege, um Lebensmittel zu suchen, verhinderten. Zuweilen machten diese wilden Scharen Versuche, uns anzugreifen; wenn jedoch einige Schüsse auf sie gerichtet wurden, zogen sie sich wieder in beobachtende Ferne zurück. Sobald aber ein unbedeckter Zug Bagage oder ein Trupp Ermatteter folgte, warei: sie im Augenblick oa, stachen nieder, was sie erreichen konnten, und entflohen rasch mit der Beute, so­bald bewaffnete Truppen näher zogen. Sie erreichten da­mit vollkommen ihren Zweck. Wie Mücken den Müden, der ruhen will, umschwärmeu und quälen, bei jeden: Winke mit der Hand davonfliegen, aber gleich wiederkommen, ihm zuweilen einen schmerzhaften Stich beibringen, dabei zum Teil totgeschlagen werden und doch immer wiederkehren und nicht dulden, daß der Müde ruht und schläft: so machten es diese wilden Schwärme ungeordneter, beute­suchender Reiter. Was von unserm Regiment noch zusammen war, sammelte sich um den Obersten Gobrecht, der allen wie ein braver Führer mit gutem Beispiel voranleuchtete, jedem Mut einsprach und uns auf Smolensk verwies. An ein eigentliches Befehlen, an eine Dislokation der Truppen war, bei uns wenigstens, nicht zu denken. Hielt die Garde vor uns an, so thaten wir es auch. Der Oberst wählte den schicklichsten Platz in der Nähe und im Schutze der Garden, wo wir biwakierten. An eine militärische Be­wachung während der Nacht dachte niemand. Wir über­ließen es andern Truppen; diese hofften wieder auf unsre oder andrer Wachsamkeit, und da wir ziemlich weit von der Nachhut entfernt waren, die Russen aber so gut wie wir der Ruhe in der Nacht bedurften, so wurden wir auch nicht gestört. Am 4. November wurde der bis dahin Helle Himmel düster; schwere Wolken, vom Winde schnell vor­übergetrieben, entluden sich in einem wirbelnden Schnee­gestöber. Wir hatten noch fünf bis sechs Märsche bis Smolensk. Am 5. fuhr es fort, abwechselnd zu schneien, und am 6. bei eisigen: Nordwinde bedeckte sich die Erde fußhoch mit Schnee. Der Weg wurde so glatt, daß die nicht geschärften Pferde sich nur mit Mühe aufrecht er­hielten. Der Verlust an diesem Tage war entsetzlich. Die Wege waren mit toten und sterbenden Menschen und Pferden bedeckt, verlassene Kanonen, Pulver- und Bagagewagen standen in Massen, das Jammergeschrei der Niedergesuukenen war gräßlich, traf aber kein mitleidiges Ohr, vielmehr

wurden die Ermüdeten von den eignen Kameraden ihrer Kleidungsstücke, ihres Geldes und was sie irgend Brauch­bares hatten, beraubt. Ihre Leiden wurden dadurch ab­gekürzt. Wer einen Sterbenden mit einen: Stück Brot, mit einem Trunk aus der Flasche hätte retten können, that es nicht, denn an dem Stück Brot, au dem Schluck Brannt­wein hing die eigne Existenz. Beim Aufbruch aus den Biwaks blieben Massen Erstarrter liegen, um die sich nie­mand kümmerte. Jeder eilte von ihnen weg, um nur weiter zu kommen. Freundschaft, Liebe, Mitleid, Barm­herzigkeit waren in den Herzen erstorben, und der furcht­barste Egoismus zur Erhaltung des Lebens, wenn auch auf Kosten des Kameraden, war an deren Stelle ge­treten." Dann kam die schwerste Enttäuschung für diese halbverhungerten, halberfrorenen Ueberlebenden der großen Armee: In Smolensk fanden sich weder die gefüllten Magazine vor noch die erwarteten Reserven; es hieß ohne Aufenthalt den Weg des Elends weiter wandern. Wenige Tage später hatte Graf Wedel bei einem Versuch, iu einem Dorfe Lebensmittel zu finden, das Glück, in die Hände der Russen zu fallen. In diesem Falle wirklich ein Glück, da er nicht, wie es den ineisten Gefangenen geschah, sofort niedergemacht, sondern sogar relativ gut behandelt wurde. Vielleicht ist der Teil der Erinnerungen, der die Erlebnisse des Grafen Wedel in russischer Gefangenschaft schildert, der interessanteste des Buches. Aber mir scheint auch der erste Teil, trotzdem er nichts Neues über den Zug Napoleons nach Moskau beibringt, so fesselnd wie kaum ein andres Memoirenbuch. Die anschauliche Darstellungsweise eines Augenzeugen der schrecklichen Ereignisse, die den Wendepunkt in der Laufbahn des korsischen Eroberers bildeten, versetzt den Leser mitten hinein iu jene Zeit, und ich habe deshalb so ausführlich gerade bei diesem ersten Teil des Buches verweilt. Was der Verfasser hier schildert, ist Welt­geschichte, während die späteren, vielfach ganz roman­haft anmutenden Erlebnisse bei allem Interesse und bei aller Spannung, die sie iu dem Leser Hervorrufen, doch nur ein persönliches Schicksal schildern. Gerade noch rechtzeitig kehrte Graf Wedel aus russischer Ge­fangenschaft zurück, um 1815 als preußischer Offizier für die endgültige Befreiung Deutschlands zu kämpseu. In jeder Familien- und in jeder Volksbibliothek vor allem sollte seine:: Erinnerungen ein Ehrenplatz eingerüumt werden.

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