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Moritz von Reichenbach.
genau, daß er Deinen Brief erhalten hat? Durch wen schicktest Du ihn?"
„Ich schickte ihn gar nicht, ich legte ihn hier in sein Zimmer, auf seinen Schreibtisch. Jetzt ist der Brief fort, er muß ihn also doch gefunden haben."
Frau Eva zündete eine Kerze an und trat an den Schreibtisch.
„Wohin hast Du den Brief gelegt?"
„O, gleich vorn hin, er ist nicht da, ich habe schon nachgesehen."
Frau Eva bückte sich und schob den Teppich bei Seite. Da, auf dem Boden lag ein zusammengefaltetes Couvert. Es war an Karl Hersall adres- sirt und uneröffnet. Mit einem Schrei war Irene aufgesprungen und hatte den Brief an sich gerissen. Sie überzeugte sich, daß er geschlossen war und sank stumm in Frau Eva's Arme.
„O Gott sei Dank, Gott sei Dank," murmelte sie, „ich bin nicht schuldig an seinem Tode."
Frau Eva ließ ihr Zeit, sich zu fassen, dann sagte sie mit leiser, eindringlicher Stimme:
„Irene, willst Du mir Helsen, einen Unschuldigen zu retten? Der Assessor von Hagen ist unter Anklage des Mordes verhaftet worden, man hat seiner That das unsinnige Motiv der Eifersucht meinetwegen untergeschoben. Dein Brief an Karl wird beweisen, daß dieser Dir nahe stand, daß er nicht daran dachte, die Pläne seines Vaters zu realisiren, und daß er daher unmöglich eifersüchtige Regungen in Herrn von Hagen erwecken konnte — selbst wenn dieser ein Interesse an mir gehabt hätte, wovon ich nichts weiß. Willst Du mir den Brief überlassen?"
„O Eva, Du hast mir das Leben wiedergegeben, indem Du das furchtbare Schuldgefühl von meiner Seele fortgenommen hast, ich will Alles thun, was Du verlangst."
„Gut, Irene, ich nehme Dich beüm Wort. Mein Schwager will morgen abreisen. Wir beide, Du und ich, wir sind hier nöthig, weil unser Zeugniß dem Angeklagten nützen kann. Bleibe bei mir, willst Du das?"
„Eva — sie werden es nicht erlauben!"
„Sie? Wen meinst Du? Ich bin majorenn, denke ich, und kann über mein Thun und Lassen selbst entscheiden. Dich freilich kann ich nicht zwingen hier zu bleiben und mir zu Helsen, aber ich bitte Dich darum!"
„Und ich will es, Eva, ich will auch Mama bereden zu bleiben. O, ich habe nie so sehr wie heut gefühlt, wie schlecht und leichtsinnig ich bin — wenn ich Karl nicht in den Tod getrieben habe, so habe ich doch mit seinem guten, treuen Herzen gespielt — vielleicht nimmt der Himmel es als Sühne an, wenn ich, ohne mich selbst zu schonen,
Alles sage, was zwischen uns vorgesallen ist — besonders wenn das, wie Du meinst, dem armen Assessor Helsen kann."
„Ich danke Dir, Irene, von jetzt ab sind wir also wieder Schwestern und Bundesgenossinnen, nicht wahr?" — Im Hausflur hörte man die Stimme des Barons, welcher befahl, daß die Koffer gepackt werden sollten.
Frau Eva öffnete die Thür und trat ihm entgegen.
„Ich lasse Ihre Sachen packen, Eva," sagte er, „ich bin überzeugt, daß Sie sich bis Morgen eines Besseren besonnen haben werden. Sie können doch unmöglich allein hier bleiben."
Frau Eva sah ihn ernst und ruhig an.
„Was Sie mit meinen Sachen machen lassen, ist mir gleichgültig," sagte sie. „Was meine Person anbetrifft, so werde ich hier bleiben, und zwar nicht allein — Irene und meine Kammerjungfer werden nicht abreisen."
„Werden nicht abreisen? Nun, das will ich doch sehen! Ich habe bisher geglaubt, mit einer vorübergehenden Laune zu thun zu haben und bin nachsichtig gewesen. Jetzt bestimme ich, daß Sie alle abreisen, unwiderruflich!"
„Und wer giebt Ihnen das Recht dazu?"
Der alte Herr stand Frau Eva mit geröthetem Gesicht und weitaufgerissenen Augen gegenüber.
„Das Recht? das Recht?" wiederholte er. „Ich möchte doch sehen, wer mir das Recht bestreiten wollte, hier zu bestimmen."
„Ich bestreite es, weil ich es in Allem, was meine Person betrifft, für mich selbst in Anspruch nehme. Im klebrigen halte ich hier einen Brief in der Hand, der beweist, daß von einer Rivalität zwischen Karl und Hagen nicht die Rede sein konnte — ich will zu Ihrer Ehre glauben, daß Sie darüber im Zweifel waren -— jetzt, wo diese Zweifel leicht zu heben sind, werden Sie begreifen, daß wir neben den Pflichten gegen das Andenken des Todten auch Pflichten gegen einen Lebenden zu erfüllen haben. Ich nehme diese Pflichten aus mich und werde ihnen Nachkommen. Zn diesem Zwecke bleibe ich hier. Komm Irene!"
Sie schritt an ihm vorüber, ihrem Zimmer zu, und er wagte jetzt nicht, ihr zu folgen.
IL.
In einem weiß getünchten Zimmer, dessen einziges Fenster durch starke Eisenstäbe verdunkelt wurde, saß Horst an einem Tisch von unpolirtem Holz und schrieb einige Briefe.
Eine hohe Mauer, welche dem Fenster gegenüber stand, gestattete dem Tageslicht nur spärlich