Die Erziehung einer neue» Generation.
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sind ihnen neidisch und suchen dieselbe Erhöhung des Genusses, suchen alle denselben praktischen Erfolg, sollten sie auch mit gekrümmten Rücken darum betteln und sich moralisch erniedrigen müssen. Zwischen dem Wissen und vernünftiger Gestaltung des Lebens, zwischen Aufklärung des Verstandes und Erhabenheit des Charakters liegt bei den meisten Menschen eine tiefe Kluft. Sehr viele sind gänzlich unfähig aus dem ihnen überlieferten Wissen nun auch Schlüsse zu ziehen für das Leben, sie haben überhaupt nicht denken gelernt, noch eine größere Anzahl können mit zunehmendem Wissen zwar ihren Verstand reinigen von Vorurtheilen, aber die Läuterung des Charakters bleibt hinter der Verfeinerung des Verstandes zurück, sie werden zwar vorurteilsfreie, weitsehende Menschen, bleiben aber doch dabei sittlich schwache oder oft gar auch sittlich tiefstehende Charaktere.
Für den Fortschritt der Gesammtcultur eines Volkes und der Menschheit überhaupt hat der oben angegebene Satz ja in gewissen Grenzen Richtigkeit, daß durch Ausbreitung unseres Wissens, durch Schärfling unseres Denkens und Vermehrung und Verfeinerung unserer Erkenntniß auch die Sitten und Gesetze verbessert und aus eine höhere Stufe gehoben werden, was bei uns allerdings noch nicht der Fall ist. Für den einzelnen Menschen aber bedeutet ein reicheres Wissen an und für sich durchaus nicht eine höhere Stufe der Menschheit, für den einzelnen Menschen gilt es vielmehr die richtige Mitte zu treffen, daß er nicht bloß ein Werkzeug der Civilisation ist, ein Mittel um die ganze Menschheit vorwärts zu bringen, sondern daß er selbst auch in seinem Kreise ein ganzes, ein schönes Ganze ist, das, indem es sich Selbstzweck ist, doch auch den Zwecken der Gesammtcultur dient. Dies aber kann nur erreicht werden dadurch, daß man die Denkkraft stählt, das Urtheil übt, die Phantasie belebt, den Willen kräftigt und erzieht, statt blos Kenntnisse einzufiltriren. Nicht was der Mensch weiß und besitzt, adelt ihn, sondern wie er seinen Schatz von Kenntnissen denkend durchdringt, seinen Reichthum benutzt, in der Phantasie sich Ideale bildet und durch Vernunft diese in der Welt zu gestalteir sucht, seine Ueberzeugungen zu verwirklichen strebt, das stellt ihn hoch. Das meinte ich und in diesem Sinne sprach ich von Erziehung zur Vernunft, die wir Generation von heute auf unser Panier schreiben statt Verstandeserziehung und Dressur zum Wissen, wie es die Generation von 48 als Ziel anfstellte. Erziehung zur Vernunft und Charakterbildung das muß man immer wieder in die Welt Hinausrufen, als das was unserer Zeit Noth thut.
Diese Forderung ist nicht willkürlich, sondern in unserer Organisation begründet. Erstens einmal sind
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die Grenzen der Aufnahmefähigkeit beschränkte und ein gewaltsames Ueberschreiten der Grenzen namentlich in der Zeit der Entwickelung schädigt die Gesundheit des Leibes, indem die geistigen Funktionen den vegetativen die Säfte entziehen und also den Boden untergraben, auf dem das geistige Leben erwächst, dann aber selbst nach der Zeit der Entwickelung verkümmert die übertriebene Betonung einseitig specialistischeu Wissens nicht blos die Harmonie des Geistes, sondern zerrüttet auch das Nervensystem und bringt Siechthum des Körpers frühzeitig hervor. Es werden Mißgestalten erzeugt, wie sie unlängst ein Witzblatt persislirte. Große Köpfe auf verkümmerten Körpern und dünnen Beinen, junge Greise von großem Wissen aber ohne Lebens- sreudigkeit weil ohne volle Gesundheit.
Wenn wir zunächst das bisher Gesagte noch einmal zusammenfassen, so finden wir:
1) Unsere Zeit leidet an Ueberschätzung des Wissens, der Berstandesbildung, hat das Wissen zum Hauptzweck gemacht, während es nur ein Mittel zur wahren Bildung ist.
2) Das bloße Wissen ist unfähig den Menschen auch sittlich zu heben und seinen Charakter zu veredeln.
3) Durch die übertriebene Vielleruerei in der Jugend wird die freischaffende und gestaltende Kraft des Geistes, Phantasie, Denkkraft und Wille in ihrer Entwickelung gehemmt, die Entwickelung zur geistigen Harmonie gehindert.
4) Durch die einseitige Reizung des Gehirns in der Jugend kann und wird oft geschädigt die volle Ausbildung des Körpers.
5) Durch die zu einseitige Beschäftigung im Mannesalter, durch die ja im Ganzen die Gesammtcultur in gewissen Grenzen gefördert wird, entstehen oft Nervenkrankheiten und geht die Lebensfreudigkeit verloren. Denn unser Wesen verlangt nach seiner ganzen Organisation Abwechslung.
Ich will durchaus nicht die Rolle des sauertöpfischen Griesgrams spielen, der seitwärts steht und den Gang der Cultur verschimpfirt, ich habe Re- spect vor dem gewaltigen Ringen des Menschengeistes in unserer Zeit aus allen Gebieten, ich weiß aber, wie es für den Einzelnen gut ist, wenn er einmal einen Schalttag macht in seinen: Leben, an dem er sein Streben, seine Leistungen, seine Sünden und Unterlassungen an seinem Geiste vorüberziehen läßt in ernster Stille und einen Ueberschlag macht über sein ganzes Leben und immer und immer wieder das Ziel und den Weg prüft, so ist es auch der Culturmenschheit gesund, wenn sie einmal aus ihrem stürmischen Eroberungswege inuehält, sich umschaut und erwägt, ob ihr Weg und ihre Mittel, ihre Sehnsucht und ihre Ideale noch richtig sind; ob sie nicht auf diesem Wege zuviel Opfer an Wegkranken
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