Heft 
(1.1.2019) 10
Seite
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I)r. me6. Hermann Rlencke.

und Todten hat. Es fällt mir gar nicht ein in den Chor gewisser Zeitungen einzustimmen, die gegen die Ausbreitung von Wissen und Kenntnissen deklamiren, weil dadurch nur Unzufriedenheit und Ungehorsam gesäet würde, ich protestire nur gegen die Ueber- schätznng des bloßen Wissens, als ob Wissen und Kenntnisse das letzte Ziel der Menschheit sei. Ein Unglück ist nur, daß die Vertreter des Wissens, daß die geistigen Führer in einen wüsten Materialismus verfallen sind und Atheismus, oder gar als Dop­pelnaturen in der Wissenschaft materialistisch gesinnt sind, im Leben aber kluger Weise sich als streng Orthodoxe und oft als Reactionäre geben. Woher kommt das? Weil ihnen die philosophische Bildung fehlt, die ans ideale Gipflnng der Naturwissenschaft dringt, welche Wissenschaft und Wissen als Th eil der Cnltnr ansieht, nicht als das Einzige, und welche aus gesunde Sittlichkeit im modernen Sinne dringt. Gesunde Ethik und Aesthetik kann wohl neben hoher naturwissenschaftlicher Bildung bestehen. Wenn Ihr Männer der Wissenschaft es auch verschmäht die Consequenzen Eurer materialistischen Lehren zu zie­hen, wenn es Euch auch in behaglicher Lebensstellung leicht wird, Euch mit dem Leben und der Welt ab- znfinden, Andere, Socialdemokraten und Anarchisten, ziehen diese Folgerungen und Ihr werdet sie von Eurem Rockschoß nicht los. Neben dem höheren Wissen muß auch eine höhere Sittlichkeit stehen, nicht crasser Egoismus und Genußsucht.

Es kommt nun noch besonders in Betracht bei der erörterten Ueberschätzung des Wissens, daß wir in einer gährenden Uebergangszeit leben, in der alte und neue Anschauungen durcheinander wirken und Unvereinbares immer von Neuem wieder zu- sammenznkleben und aneinanderzukleistern versucht wird. Da man nun nicht den Muth hat, mit dem Alten zu brechen und im Sinne der neuen verän­derten Weltanschauung vorzugehen, andererseits aber doch auch nicht den: Zeitgeiste ins Gesicht schlagen kann und sich abschließen gegen das Neue, so theilt man, wie die Halben alle thun, sein Interesse und bearbeitet die Schüler nach der alten und nach einer neuen Methode. Wie die Aermsten daraus ein Ganzes fertig bringen, ist ihre Sache. Grie­chischer und lateinischer Formelkram und Mathe­matik, Chemie, Physik, gründliche Kenntniß der Ge­schichte der alten Meder, Perser, Aegypter re. und englische und französische Sprache, weil man diese jetzt zu den Erfordernissen eines Gebildeten rechnet, streng orthodoxchristliche Dogmatik und Darwi­nismus, Auswendiglernen von Gesangbnchversen und Cultnrgeographie re. Alles das geht bunt durcheinander. So herrlich weit hat man's gebracht mit der Verachtung des Denkens, mit der Ver­achtung einer gründlichen philosophischen Bildung, die auf Einheit geht und dringt. Hält alle Theile

in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band, heißt es bei unserer Bildung heute.

Dies ist die eine Seite der Sache, die andere Seite, die ebenso aus der Wurzel einer falschen Weltanschauung entspringt (die Herren der Wissen­schaft verachten die Philosophie und philosophische Bildung und statt Naturwissenschaft und Philo­sophie eine gesunde Ehe eingehen zu lassen, ans der eine gesunde Weltanschauung entspringt, erzengen sie wie Wagner in seiner Flasche, in den Retorten und Laboratorien einseitig einen Wechselbalg von Weltanschauung und das urtheilslose Volk nimmt das gläubig auf und wirdwissende Bestie"), ich sage die andere Seite ist der Mangel eines sowohl für den Gelehrtesten und Gebildetsten als auch für das Volk ausreichenden Moralprincips, einer ge­sunden Sittlichkeit im modernen Sinne. Wie einer­seits die Hinwendung zum Diesseits und zum Leben ans dieser Erde von einer übermäßigen Betonung des Jenseits unsere gesammte moderne Cnltnr mit ihren herrlichen Errungenschaften geschaffen hat, so ist man doch in Uebertreibung einer heilsamen Rich­tung zu weit gegangen, man hat über der Pflicht den jetzigen Zustand der Menschheit auf unserem Planeten so sehr als möglich zu bessern und zu veredeln, vergessen, daß unser jetziger Zustand doch immerhin als eine Uebergangsstnfe des menschlichen Geistes zu höheren Entwickelnngsstnfen zu betrachten ist. Aus jener Ansicht, die sich nur an dieses Leben klemmt, ist denn der Trieb entsprungen, dieses Leben möglichst in Genuß auszunutzen, und um den Lebens­genuß nun entbrennt ein wilder Kampf.

Es ist dies dieselbe Ueberschätzung der äußern Mittel, die wir vorhin schon fanden als Ueber­schätzung des bloßen Wissens und Unterschätzung des Denkens, hier stellt sie sich dar als Ueberschätzung der Genußmittel und Unterschätzung der Genuß­fähigkeit, der innern Quellen des wahren Genusses. Such' es nicht Draußen, da sucht es der Thor, such' es in Dir, Du bringst es ewig hervor. Wir kranken an einem falschen Glücksideal. Das äußere Glück ist wie Thau des Himmels und Regen, man kann es nicht erzwingen, man muß es betrachten als etwas, was zu seinem Streben hinznkommen kann, was die Arbeit segnen und fruchtbar machen kann, nicht als das oberste Ziel, denn dies ist für den wahren Menschen immer nur die Arbeit an sich und der Cnltnr. Stuart Mill, der berühmte englische Denker, der eine Zeit lang selbst die Stim­mung durchgemacht hat, die heute unsere Cnltnr beherrscht, hat dies schön ausgedrückt in den Worten: Die Freuden des Lebens reichen aus, wenn man sie on pnWnnt mitnimmt, ohne sie zu seinem Haupt­objecte zu machen. Thut man das Letztere, so wird man sie sofort ungenügend finden, da sie vor einer unbefangnen Prüfung nicht Stand halten. Alle