Heft 
(1.1.2019) 10
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Die Erziehung einer neuen Generation.

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wahren großen Menschen trugen sich mit der An­schauung, der Genuß, welchen die Sympathie für wesentliche Wesen bereite und die Gefühle, welche in das Wohl Anderer und namentlich der Mensch­heit im Großen ihren Daseinszweck verlegten, seien die größten und sichersten Quellen des Glücks. Das falsche Glücksideal, das uns heute beherrscht, ist denn auch die erste Quelle des Pessimismus, weil es nicht ausreicht tun den Menschen wahrhaft zu befriedigen; des Pessimismus, der Blasirtheit und Zerfahrenheit unserer Generation. Wir empfinden schwer die Mängel der bloßen Verstandesaufklärung, welche ganz vergißt, daß das Edelste, was wir be­sitzen, der himmlische Funke, das Gepräge des gött­lichen Ebenbildes, das Princip jedes Heroismus, die Vorstellung der reinen Uneigennützigkeit ist. Wir haben vergessen, daß in der sterblichen Hülle des Menschen noch etwas Unendliches lebt, dem zu ge­nügen die sinnreichsten commereiellen Berechnungen, die scharfsinnigsten gelehrten Erörterungen und alle Schätze der Erde unvermögend sind. Wenn bei einer Nation der Genuß höher steht als alle erhabnen Ideen, so ist das Todesurtheil gesprochen, im materiellen Genuß untergegnngen langt sie bei dem Nichts an und der Weltgeist spricht zu ihr wie zu dem prah­lenden Reichen in der Bibel: Du Narr, diese Nacht wird der Herr deine Seele von dir nehmen! Der verderbliche Einfluß eines falschen Glücks­ideals steht nun aber in unserer Gesellschaft in Wechselwirkung mit dem Atomismus und Indivi­dualismus unseres Staates. Jeder Mensch ist nur die eine Seite einer Gleichung, auf der andern Seite steht eine Summe Geld. Er gilt nicht als Theil der großen Geisterarmee, welche über diese Erde marschirt zu höherem Ziele, er ist nicht Einer, ans dessen: Haupte jedes Haar gezählt ist, und der in der Liebe seiner Mitmenschen eine sichre Bürg­schaft hat seiner unsterblichen Seele, sondern er ist ein Stück Geld, ein Werth, der alle Tage ent- werthet und auf den Kehrichthaufen geworfen werden kann. Einer ist von dem Anderen abgesondert und hat kein anderes Geschäft mit ihm als ein Cassen- conto, eine Berechnung wie Nachfrage und Angebot, Baarbezahlung, Credit re. Kunst, Wissenschaft, Ideale sind nicht mehr das Glück und die Ziele der Men­schen, sondern nur der Fußschemel zum Aufsteigen in bequemere sociale Verhältnisse. Denn nur um dieses rasche Aussteigen tobt der Kampf, entbrennt der Wetteifer. ImiWsr, tsiiro, Inisssff allor und Kampf nm's Dasein sind die Stichworte der Zeit, d. h. laßt den Kampf nm's Dasein wüthen, es stellt sich von selbst eine innere Harmonie und gesunde Ord­nung der Dinge her. Diese ganz falsch verstandene Uebertragung des Princips vom Kampfe um's Da­sein aus menschliche Verhältnisse hat schlimmer als Pest und Theuernng gewüthet und wüthet noch.

Ja, wenn es kein Geld gäbe, dann vielleicht wäre die Sache richtig, so aber bringt der Mensch einen künstlichen" Werth in die gesellschaftliche Ordnung, und wenn der Mann, der mit Millionen geboren ist, über die armen Teufel siegt, siegt da auch der Beste? Gebt gleiche Waffen zum Kampfe, dann laßt den Kampf entbrennen. Aber errichtet hinter dem Schlachtfelde auch Stätten barmherziger Liebe, Verbandstätten und Heilstätten für die in diesem Kampfe Verwundeten.

Ich gebe ja zu, es geschieht in der Neuzeit gewiß Erhebliches zu Wohlthätigkeitszwecken, aber es fehlt eine Organisation, ein einheitlicher Gedanke für alle diese Einzelwirkungen. In früherer Zeit war die römische Kirche eine große Wohlthätigkeits- anstalt und umfaßte die einzelnen Menschen persön­lich wie eine große Familie, nahm sich der Armen und Bedrängten an,* später waren es die Zünfte und Innungen aller Art, die Klöster, die den Einzelindividuen sicheren Halt boten, noch bis in unser Jahrhundert hinein bestand ein patriarchalisches Verhältniß zwischen Meister und Gesellen und Lehrlingen, Dienstherrschaft und Dienstmädchen re. Diese Gemeinschaft ist heute verschwunden, der Staat hat den patriarchalischen Charakter verloren. Da ist eine Lücke fühlbar und diese kann nur der Begriff der menschlichen Gesellschaft ansfüllen, sie ist die moderne große Familie.

Wir sehen wieder: Wir befinden uns in einem Uebergangszustande, zurück zu den alten Corpora- tionen können wir nicht mehr, vorwärts in das andere Extrem, einen socialistischen Zwangsstaat wollen wir nicht, der jetzige Zustand ist unhaltbar, so kommt es auch hier darauf an, rüstig an Re­former: zu gehen und neue Organisationen zu schaffen, wenn uns nicht die sociale Revolution vernichten soll. Wohin man sieht und wo mau liest, heißt es: So kann und darf es nicht weiter gehen, dieser Mammondienst, daß Ehre, Pflicht verkauft wird, um mehr zu gewinnen, ist unerträg­lich, so heißt es auch im Schriftstellersach, bei den Leuten, welche man Ritter vom Geiste nennt und deren Ehrenschild es war und sein soll, rücksichts­los im Dienste der Wahrheit zu stehen. Alles istGeschäft-Erwerb". Es ist durchaus keine ideale Schwärmerei zr: verlangen, daß nicht das Geld der einzige Maßstab sei, es gab Zeiten und wird

* Als mau unter der Regierung Heinrichs VIII. von England einen Versuch machte, den größeren Theil Eng­lands in Weideland zu verwandeln und durch Aufhebung der Klöster die Hauptquelle der Wohlthätigkeit zerstörte und sehr Biele hilflos in die Welt gestoßen hatte, schätzte Holinghed die Hinrichtungen auf die erstaunliche Zahl von 72,000, oder 2000 im Jahr, so daß oft 20 Menschen an einen Galgen gehängt wurden. Mitte des 18. Jahrhunderts waren sie trotz Zunahme der Bevölkerung auf weniger als 100 gefallen.

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