Heft 
(1.1.2019) 10
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I)r. me6. Hermann Kleucke. Die Erziehung einer neuen Generation.

reizenden Bildern wie das Märchen und Makarlls nackte Frauen, Liebesabenteuer, Nachrichten von Ver­brechen und Unglückssällen aller Art in der Tages­chronik der Zeitungen reißen den Menschen wider­standslos in ihren Strudel, er fühlt sich nicht ein­mal wohl darin, aber er läuft mit, weil es Chic ist. Eitle Menge Aufregung und Zerstreuung, aber keiice Befriedigung, ein beständiges Haschen nach den lachenden Früchten des Genusses, die vor der Hand der Gierigen immer zurückweichen oder in seiner heißen Hand zerschmelzen. In dieses Leben nun werden die Mädchen, noch ehe ihre Entwickelung beendet ist, eingeführt, eingeführt zeitig, um sich bald standesgemäß zu verheirathen, damit der Mann dann das kostspielige Leben bestreite, unter dem der Vater fast zusammenbricht, zu heirathen oft einen Mann, der mit seiner Jugend längst fertig ist (denn in den 20er Jahren erreicht heutzutage selten ein Mann eine Stellung mit so hohen Einnahmen), zu heirathen einen debauchirten blasirten Mann, der sich aus­getobt hat. Die Töchter aber des Proletariats, die Fabrikarbeiterinnen, werden durch schlechte Nah­rung, Wohnung, frühen Eintritt in die Fabrik in ihrer gesunden Entwickelung gehemmt, durch den Aufenthalt in den heißen Fabrikräumen und den Verkehr mit halbwüchsigen Jungen wird ihre Sinn­lichkeit erweckt, ehe der Körper entwickelt ist, im besten Falle heirathen sie zu frühe und gebären dann scrophulöse und sieche Kinder mit enormer Sterblichkeit. So sterben im 12. (Arbeiter-)Arrou- dissemeut der Stadt Paris gerade noch ein Mal so­viel Menschen als im reichen 2. Arrondissement der Rne St.-Honors; in gewissen Arbeitervierteln hat überhaupt nur 500Z Kinder Wahrscheinlichkeit das 2. Jahr zu erreichen. Hier ist es die Armuth und schlechte Einrichtung, auf der wohlhabenden Seite ist es die Verkehrtheit der Begriffe, die zu Grunde richtet.

Bleichsüchtig und nervös kommt das Mädchen oft in die Ehe, ohne Lust häusliche Pflichten zu erfüllen, sich in Küche und Wirthschaftsräumen um­zusehen, mit größerer Kenutniß von Romanen als des Kochbuchs, voller Illusionen und Ansprüche ohne andere Gegenleistung als ihre Mitgift. Wie oft haben ihr ihre Literaturlehrer vorgelesen: Stre­

ben ist Leben, Genießen macht gemein und andere schöne Sprüche aus Goethe und Lessing und Schiller, sie will nicht mehr mit dem Manne zusammen ringen, ihm sein Leben erleichtern und verschönen, sie will einen Mann, der ihr ein standesgemäßes Leben sichert. Sie wirst der Sängerin, die den Fidelio darstellt, Kränze, um hinterher nur in ge­heimem Klatsch sich von demVerhältniß" dieser Sängerin zu unterhalten, nicht um zu beweisen, daß sie begriffen hat, wie das Weib allein durch aufopfernde Liebe dem Mann überlegen ist und daß alle Weisheit dieser Welt eitel Schein ist gegen den Heroismus wahrer dauernder Liebe! Nach den ersten Wochenbetten aber fängt diese moderne Frau an zu kränkeln und nun kommen der Specialarzt für Frauenkranke und die Bäder dran! Der Mann muß sich drein ergeben und sein Gehirn immer mehr an­strengen, um mehr Geld zu verdienen, denn Ver­gnügungen und Krankheiten kosten viel Geld. So ist denn die allgemeine Hetzjagd fertig. Wohl fühlt sich Niemand dabei, aber man lebt doch chic. Wer besäße auch den Muth diesen fehlerhaften Cirkel zu durchbrechen und der Gesellschaft Trotz zu bieten! Er würde geächtet oder als Narr verlacht!

Wie in der Politischen Welt, so ist auch in der socialen Welt ein allgemeiner Kriegszustand, ein Ueberbieten mit Kriegsmitteln, jeder will den andern um jeden Preis übertrumpfen, Alles will hoch hin­aus und Carriäre machen und Alle sind schließ­lich getäuscht, denn sie haben hohlem Scheine ihr Lebensglück geopfert. Wenn diese Menschen sterben, muß ihnen sein, als erwachten sie von einem schwe­ren Traume, der beängstigend auf ihnen gelegen. Und doch ist das Himmelreich auf unserer schönen Erde so leicht zu erreichen!

Würde Frau und Kinder standesgemäß zu er­halten nicht soviel kosten, so brauchte der Mann nicht so übermäßig angestrengt zu arbeiten in ein­seitiger Berufssphäre und könnte freie Zeit erhalten um die Erziehung der Kinder zu leiten, zu der er heute keine Zeit hat. Denn die Schule giebt wohl Wissen, aber echt menschliche Erziehung zu vernünf­tiger Lebensführung kann nur an dem Einzelnen geübt werden im Hause.

(Fortsetzung folgt.)